Baldo Blinkert - Rahmenbedingungen für "Jugendhilfe 2000+"

Vortrag auf dem 1. Gesprächsforum des von der Prognos AG durchgeführten Projektes "Jugendhilfe 2000+" am 19.3.98 in Pforzheim.

Ich wurde gebeten, in dem Projekt "Jugendhilfe 2000+" eine Aussage darüber zu machen, wie sich die Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche entwickeln könnten. In Ihrem Projekt geht es in erster Linie um praktische Fragen: Wie kann Jugendpolitik auf diese geänderten Bedingungen eingehen? Wie ist eine "vernetzte Jugendpolitik" möglich? Wie müßte eine "vorausschauende Jugendpolitik" aussehen, die den Problemen nicht hinterherläuft, sondern präventiv, systematisch und kontinuierlich auf die Verbesserung der Situation junger Menschen ausgerichtet ist. Ich sehe meinen Beitrag so, daß ich versuchen werde, auf Bedingungen einzugehen, die für die Situation von Kindern und Jugendlichen wichtig sind, und für die sich auch schon gewisse Trends der Weiterentwicklung erkennen lassen.

In Ihrer Projektbeschreibung finde ich Hinweise auf solche Bereiche:

  • Ausbildung und Berufseinstieg
  • Förderung benachteiligter Jugendlicher
  • Umgang mit Jugendkriminalität
  • gewünscht wurde auch, daß ich auf demographische Veränderungen eingehe
  • Ergänzend sollte man sich noch mit den folgenden Themen beschäftigen
  • Familie und Sozialisationsbedingungen
  • Orientierung und Sinnfragen, Moral und Werte
  • soziale Integration
  • Erlebnisse und Anregungen
Damit wird die Anzahl der wichtigen und interessanten Themen bereits so groß, daß man im Verlauf eines Abends kaum noch etwas Vernünftiges darüber sagen kann. Ich muß mich deshalb auf einige wenige Bereiche beschränken und werde versuchen, viele einzelne Informationen über die Veränderung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diesen Bereichen zuzuordnen.

Grundlegende Änderungen für die Situation von Kindern und Jugendlichen haben sich nach meiner Einschätzung in den folgenden Bereichen ergeben

  • Arbeit
  •  soziale Chancen
  •  Familie und Sozialisation
  •  soziale Integration
  •  öffentliche Räume
Zum Teil ist absehbar, daß diese Änderungen sich fortsetzen werden, zum Teil aber wissen wir nicht, wie die weitere Entwicklung aussehen wird.

I. Arbeit

In der bisherigen Geschichte der Industriegesellschaften war Arbeit in der Form von lohnabhängiger Erwerbsarbeit immer ein zentrales Moment der sozialen Ordnung. Arbeit ist nicht nur ein Produktionsfaktor - neben Kapital und Boden -, sondern Arbeit ist für den Erwerbstätigen auch eine Status-, Einkommens- und Sinnquelle. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat man Arbeit so ernst genommen, wie in den letzten 250 Jahren. Nicht ohne Grund spricht man auch von einer "Arbeitsgesellschaft". Aber wird die Gesellschaft der Zukunft auch eine "Arbeitsgesellschaft" sein? Vieles deutet ja darauf hin, daß der "Arbeitsgesellschaft" die Arbeit ausgeht, wie das von Ralf Dahrendorf einmal formuliert wurde - genauer müßte man sagen, der Arbeitsgesellschaft geht die Erwerbsarbeit aus, also die über den Arbeitsmarkt organisierte und bezahlte Arbeit. Arbeit in einem anderen - sehr viel weiteren Sinne - verschwindet ja nicht, aber bis jetzt zumindest kann man von dieser Art von Arbeit noch nicht besonders gut leben. Die Indikatoren für eine Verringerung der Erwerbsarbeit jedenfalls sind unübersehbar:

Was die Arbeitslosenquote angeht, werden alle drei Monate neue Rekorde gemeldet - mittlerweile sind wir bei 5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen angelangt. Wenn wir das Dunkelfeld berücksichtigen und die statistische Kosmetik durch "Warteschleifen" und den "Zweiten Arbeitsmarkt" können wir sogar von rund 7 Millionen ausgehen.

Trotz wirtschaftlichem Wachstum sinkt das jährlich erbrachte Volumen an Arbeitszeit kontinuierlich: Von rund 55 Mrd Stunden 1966 auf nunmehr gerade noch 45 Mrd Stunden
 

Die Folge von dieser Entwicklung ist Arbeitslosigkeit und freiwillige oder unfreiwillige Verkürzung der individuellen Arbeitszeit. Die Zahl der Arbeitslosen wäre ja noch viel größer, wenn die von einem Erwerbstätigen im Durchschnitt geleistete jährliche Arbeitszeit nicht deutlich abgenommen hätte - von rund 2000 Stunden 1966 auf nunmehr etwas über 1400 Stunden - bedingt durch zunehmende Teilzeitarbeit, abnehmende Überstunden, aber auch durch tariflich ausgehandelte Arbeitszeitverkürzungen.

Wie dauerhaft ist nun diese Entwicklung?

Wir können hier im einzelnen nicht klären, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Aber einige Stichworte sind doch erforderlich, um abschätzen zu können, wie dauerhaft diese Entwicklung ist. Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Der entscheidende Punkt ist, wie die relative Bedeutung von Faktoren eingeschätzt wird. Wenn die Hauptursache in der demographischen Entwicklung gesehen wird, dann besteht Aussicht, daß sich um das Jahr 2015 eine Entschärfung abzeichnet: Bedingt durch einen abnehmenden Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter wäre dann mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Das insgesamt nachgefragte Arbeitsvolumen würde sich dann auf eine geringere Zahl von Arbeitsanbietern verteilen und unsere Probleme würden sich von selbst lösen. Die folgende Abbildung zeigt, wie man sich in den Prognosen zur Arbeitsmarktsituation diese Entwicklung vorstellt.

An der Entwicklung im Bereich Arbeit sind aber auch andere Faktoren beteiligt. Einer davon ist die Entwicklung der Produktivität, genauer: der Arbeitsproduktivität, damit ist gemeint, welcher Output pro geleisteter Arbeitsstunde erzeugt werden kann. Diese Produktivität ist in den letzten Jahren in beachtlichem Umfang gestiegen - jedenfalls deutlich schneller als das Produktionsvolumen - gemessen über das Bruttoinlandsprodukt. Ein gegebene Menge an Gütern und Dienstleistungen kann also in immer kürzerer Zeit erstellt werden. Die Gründe dafür sind bekannt: neben einer Verbesserung von Qualifikationen (dem sogenannten Humankapital) ist es vor allem der technische Fortschritt und die Nutzung dieses Fortschritts im Rahmen von Rationalisierungsinvestitionen. Es ist nun zu erwarten, daß dieser Faktor in der Zukunft noch sehr viel stärker wirksam wird - stärker jedenfalls, als das Anfang der 90er Jahre in den Prognosen berücksichtigt wurde. Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen dürfte sich hier die Globalisierung auswirken. Der Konkurrenzdruck wird größer und damit auch der Druck, durch kostensparende Rationalisierungsinvestitionen auf den internationalen Märkten und gegenüber Importprodukten Vorteile zu sichern. Zum anderen ist auf die enormen Rationalisierungsmöglichkeiten durch informationstechnische Innovationen hinzweisen. Diese Möglichkeiten werden erst allmählich genutzt und haben doch schon gravierende Auswirkungen. Besonders attraktiv werden die damit verbundenen Chancen auch deshalb, weil sie sich sehr kostengünstig realisieren lassen. Der Einsatz von Informationstechnik, die Anpassung informationstechnisch gesteuerter Vorgänge an neue Bedingungen, erfordert nur in geringem Umfang kostenaufwendige Materieveränderungen. Hier sei daran erinnert, daß der Computer eine Universalmaschine ist, die man durch einen Telefonanruf in eine neue Maschine umwandeln kann - dabei ist kein Löten, Fräsen, Bohren oder Schweißen erforderlich. Auch die Hoffnungen auf eine durch die Nachfrage nach informationstechnischen Produkten bedingte Steigerung des Arbeitsvolumens dürften illusorisch sein. Die Herstellung von informationstechnischen Produkten ist in hohem Maße automatisierbar und diese Produkte haben gegenüber konventionellen Produkten eine sehr viel geringere Fertigungstiefe - Man vergleiche nur, welche Vorleistungen bei einer mechanischen Uhr erbracht werden müssen, gegenüber den Vorleistungen, die nur noch für eine Quarzuhr erforderlich sind.

Es ist wahrscheinlich realistisch, wenn wir von einer weiteren deutlichen, vielleicht sogar dramatischen Verringerung des Arbeitsvolumens ausgehen. Wenn es z.B. um weitere 10 Mrd Stunden pro Jahr auf nur noch 35 Mrd Stunden absinkt, würde das - auch bei einer verringerten Zahl von Erwerbspersonen - weiterhin Massenarbeitslosigkeit bedeuten, oder aber - wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber sich auf eine Arbeitszeitverkürzung einigen könnten - auf eine deutliche Verringerung der im Durchschnitt geleisteten jährlichen Arbeitszeit auf vielleicht nur noch 1000 Stunden.

Wenn das nun zutrifft: Mit was für Konsequenzen müssen wir rechnen? Welche Bedeutung haben diese Entwicklungen für die Jugendpolitik? Diese Frage müssen wir uns auf jeden Fall stellen - auch wenn die Entwicklung anders läuft, als ich das hier angenommen habe, denn auch in den optimistischen Prognosen geht man ja davon aus, daß sich bis zum Jahre 2010 nicht viel ändern wird. Auf vier Aspekte möchte ich hinweisen:

(1) Wenn diese Entwicklung anhält, wird ein zentrales Ordnungs- und Organisationsprinzip dieser Gesellschaft an Bedeutung verlieren - das betrifft nicht nur Jugendliche, sondern uns alle. Selbst in der Form von anstrengender und gefährlicher, körperlicher Arbeit hat Arbeit immer zur Sinngebung, zur Orientierung, zur Ordnung des Lebens beigetragen. Die Untersuchungen über die Arbeitslosen von Marienthal haben ja gezeigt, was passiert, wenn dieses strukturierende Moment wegfällt: Es kommt zu einem Verlust des Zeitempfindens und Gefühle der Sinnlosigkeit entstehen, nicht selten begleitet von plötzlichen und unerklärlichen Ausbrüchen aggressiven und zerstörerischen Verhaltens.

(2) Diese Entwicklung betrifft aber auch zahlreiche strukturelle Arrangements in unserer Gesellschaft: Es wird kaum noch möglich sein, die Alterssicherung so zu finanzieren wie wir das bisher getan haben: durch die Beiträge von Erwerbstätigen. Und es wird auch notwendig werden, durch ein Grundeinkommen oder eine "negative Einkommenssteuer" das für viele nicht mehr ausreichende oder ganz fehlende Erwerbseinkommen aufzustocken oder ganz zu ersetzen.

(3) Auch für die Sozialarbeit und Jugendhilfe hat diese Entwicklung beachtliche Konsequenzen., denn Arbeit in der Form von lohnabhängiger Erwerbsarbeit war in der Sozialarbeit immer ein zentrales Thema. Die Sozialisation und Resozialisation von auffälligen Jugendlichen, von Nichtseßhaften und "Unwirtschaftlichen" lief ja immer im wesentlichen auf die Gewöhnung an Arbeit hinaus, auf die Erfordernisse lohnabhängiger Reproduktionsformen und auf die Vermittlung von hochgeschätzten extrafunktionalen Qualifikationen - wie Pünktlichkeit, Sorgfalt, Disziplin und Affektkontrolle. Nun entstehen aber jede Menge Fragen, auf die noch niemand eine überzeugende Antwort weiß: Auf welches Ziel soll die Jugendsozialarbeit ihre sozialisierenden und resozialisierenden Bemühungen richten? Sind die Tugenden des Arbeitsethos überhaupt noch gefragt? Ist es noch vertretbar, die damit verbundenen Motivationen und Ambitionen zu vermitteln? Oder erzeugt man damit bei den jungen Menschen nur noch psychischen Leerlauf, Resignation und vielleicht auch Aggression auf eine Gesellschaft, die mehr verspricht als sie halten kann? Aber welche Alternativen bieten sich an? Vielleicht wird die Jugendhilfe es sich zur Aufgabe machen müssen, neue und tragfähige Lebensformen zu entwickeln. Aber wie könnten die aussehen? Und was heißt "tragfähig"? Ist das vielleicht die Lebensweise des Transferempfängers, der die öffentliche Alimentation nun nicht mehr als etwas Würdeloses empfindet, sondern als ein Grundrecht? Bietet die informelle Ökonomie (also Schwarzarbeit und Heimarbeit) eine Lebensperspektive? Ist die "Tätigkeitsgesellschaft" ein Ausweg? - also eine Gesellschaft von bürgerschaftlich Organisierten, die sich außerhalb einer bezahlten Erwerbstätigkeit für das Allgemeinwohl einsetzen? Das wäre vielleicht eine sinnvolle Option. Aber wie soll man dazu motivieren? Und es müßte auch geklärt werden, wie denn die bürgerschaftlich Tätigen ihre ökonomische Basis sichern können. Wenn mehr "bürgerschaftliches Engagement" als Lösung für die Krise der Arbeitsgesellschaft gefordert wird, dann wird man auch ein Grundeinkommen fordern müssen, damit dieses Engagement überhaupt erst möglich wird.

Dieser Hinweis auf die "Tätigkeitsgesellschaft" macht im übrigen vielleicht deutlich, daß die Verringerung des Arbeitsvolumens keineswegs nur als eine negative Entwicklung gesehen werden darf. Dieser Prozeß ist durchaus auch mit Chancen verbunden - aber wenn wir uns die Vorschläge der Verbände und der politischen Parteien betrachten, ist nicht erkennbar, daß das gesehen wird, denn alle Vorschläge bewegen sich immer noch in den Kategorien der alten "Arbeitsgesellschaft".

(4) Die Verringerung des Umfangs der Erwerbsarbeit betrifft Kinder und Jugendliche nicht nur direkt, sondern auch indirekt: Immer mehr Kinder wachsen unter Armutsbedingungen auf. In Großstädten gibt es Stadtteile, in denen bereits jedes zweite Kind von Sozialhilfe abhängig ist. In diesen Situationen entsteht ein Sozialisationsklima, für das Unstabilität und anomische Konflikte kennzeichnend sind. Auf einige der damit verbundenen Konsequenzen werde ich später noch eingehen.

II. Soziale Chancen

Mit "sozialer Chance" meine ich die Wahrscheinlichkeit, daß jemand eine gesellschaftliche Position erreichen kann, die seinen Erwartungen, Neigungen und Aufwendungen entspricht. Natürlich hängen diese Chancen auch von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt ab: Wenn der Konkurrenzdruck abnimmt, weil die Zahl der Erwerbspersonen geringer wird, könnte es auch zu einer Verbesserung der Chancen kommen. Damit wäre für Jugendliche etwa ab dem Jahr 2010 zu rechnen, wenn die optimistischen Prognosen sich als zutreffend erweisen. Wenn aber die Vermutung sich als richtig herausstellt, daß die Verringerung des Arbeitsvolumens doch der durchschlagende Effekt ist, läßt sich schwer vorhersagen, wie sich das auf die Chancen auswirkt. Es könnte trotz dieser Veränderung zu einer Verbesserung kommen, wenn die jährliche Arbeitszeit von Erwerbstätigen verringert wird - durch vermehrte Teilzeitarbeit, tarifliche Arbeitszeitverkürzungen, Verlängerung des Urlaubs, Einführung eines sabatical. Kommt es nicht dazu, ist eher mit einer Verschlechterung zu rechnen. Verbesserte Chancen auf eine Position bei verringertem Arbeitsumfang würde aber in jedem Fall bedeuten, daß die jetzt heranwachsende Generation mit einer Verringerung des materiellen Lebensstandards rechnen muß, denn eine Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit wird nur mit Einkommenseinbußen möglich sein.

Es ist schwer, die sozialen Chancen von Jugendlichen abzuschätzen, weil verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind. Von ganz wesentlicher Bedeutung ist, wie sich die Nachfrage nach Erwerbstätigen mit gehobener und höherer Qualifikation verändern wird. In den Prognosen geht man davon aus, daß bis zum Jahr 2010 der Anteil der Arbeitskräfte mit Fachhochschul- oder Universitätausbildung von ungefähr 12 Prozent in der Gegenwart auf rund 20 Prozent steigen wird. Das ist überraschend wenig, wird aber verständlich, wenn wir davon ausgehen, daß diese Prognose nur zum Ausdruck bringt, welche Nachfrage nach derart hochqualifizierten Arbeitskräften bestehen könnte. Das Qualifikationspotential auf der Angebotsseite wird sich davon wahrscheinlich deutlich unterscheiden, denn in der Generation der jetzt sich in einer Ausbildung befindenden Jugendlichen ist der Anteil derjenigen, die eine Fachhochschul- oder Universitätsausbildung anstreben sehr viel höher. Die neueste Shell-Jugendstudie berichtet, daß rund 40 Prozent der Jugendlichen die Fachhochschul- oder Hochschulreife erwerben und rund ein Drittel studieren an einer Hoch- oder Fachhochschule, bzw. streben ein solches Studium an. Was diese Entwicklungen bedeuten, ist schwer zu sagen. Es könnte sein, daß die Prognosen falsch sind und die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften im Zuge der Entwicklung zu einer "Wissensgesellschaft" doch erheblich größer ist. Es könnte aber auch sein, daß in der Zukunft, viele Erwerbstätige einer Beschäftigung nachgehen werden, die unterhalb ihrer Qualifikation liegt.

Mit einiger Sicherheit kann man jedoch vorhersagen, daß das Bildungssystem eine ganz zentrale Funktion für die Zuweisung von sozialen Chancen haben wird - allerdings wird diese Funktion ganz anders aussehen als in der Vergangenheit. Das hat etwas mit der Bildungsexpansion zu tun: Von den gegenwärtigen Jugendlichen streben 40 Prozent die Fachhochschul- oder Hochschulreife an bzw. haben sie bereits erreicht, weitere 40 Prozent wollen einen mittleren Abschluß erreichen bzw. haben ihn bereits und nur noch 20 Prozent orientieren sich an einem Hauptschulabschluß oder einem noch darunter liegenden Abschluß. Das hat verschiedene Konsequenzen: Zum einen wird ein Druck nach unten ausgeübt. Auch für Lehrberufe wird in zunehmendem Maße ein mindestens mittlerer Abschluß erwartet. Und Bewerber um Ausbildungsgänge, für die in der Vergangenheit ein mittlerer Abschluß ausreichend war, müssen nun mit Abiturienten konkurrieren. In der Vergangenheit war ein höherer Bildungsabschluß und eine höherqualifizierende Berufsausbildung fast mit der Garantie verbunden, auch eine einigermaßen attraktive Position zu bekommen - eine gute Ausbildung war, so könnte man sagen, dafür eine notwendige und hinreichende Bedingungen. Schon in der Gegenwart ist das nicht mehr so: eine höhere Schulausbildung garantiert nicht mehr die Chance auf eine attraktive Position, aber sie ist eine Voraussetzung dafür - Bildung wird damit zu einer nur noch notwendigen, aber nicht mehr hinreichenden Bedingung für attraktive gesellschaftliche Positionen. Damit gewinnen aber zusätzliche Differenzierungen und Kompetenzen - die "feinen Unterschiede" - eine sehr große Bedeutung und wie gut jemand darüber verfügen kann, hängt vermutlich in hohem Maße davon ab, in welcher Weise die Familie direkt durch soziale Beziehungen oder indirekt durch die Vermittlung von Motivationen und Techniken des Persönlichkeitsmanagements hilfreich sein kann.

Die zunehmende Bedeutung des familiären Hintergrunds für die sozialen Chancen ist jetzt schon deutlich erkennbar und sie wird in der Zukunft eher noch zunehmen. Schon jetzt ist erkennbar, daß sich Bildungs- und Ausbildungsgänge in zunehmendem Maße gegenüber bildungsfernen Schichten abschließen. Das ist sicher kein bewußtes Abschließen, aber die Ergebnisse sind eindeutig. Das hat die hier in Pforzheim durchgeführte Untersuchung gezeigt, wird aber auch deutlich, wenn die Ergebnisse der Shell-Studie berücksichtigt werden: Der geplante bzw. erreichte Schulabschluß und die geplante bzw. erreichte berufliche Ausbildung hängen ganz entscheidend vom Bildungsmilieu der Eltern ab. Von Jugendlichen, deren Eltern einen Hauptschulabschluß haben, erwerben nur 22 Prozent die Hochschulreife, und nur 15 Prozent beginnen ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium. Haben die Eltern dagegen selber die Hochschulreife, streben 82 Prozent der Jugendlichen das Abitur an und 73 Prozent ergreifen dann auch später ein Studium.

Das System der Chancenverteilung ist also sehr viel geschlossener als oft vermutet wird. Die "klassischen" und schon als überwunden geglaubten Selektionsbedingungen - die sozialen Positionen der Eltern - haben eine ganz erhebliche Bedeutung für die Verteilung von Startchancen. Eine Tendenz zur "sozialen Vererbung" von kulturellem und sozialem Kapital ist unübersehbar. Das gibt Anlaß zu der Frage, welchen Beitrag diese deutlich erkennbare Tendenz zur Demotivierung und Resignation von Jugendlichen leistet. Die Frage ist deshalb berechtigt, weil die tatsächlichen Verhältnisse ja in einem krassem Widerspruch zu populären Vorstellungen stehen. In einer völlig falsch verstanden Weise hat die soziologische Hypothese über die "zunehmende Individualisierung in unserer Gesellschaft" Eingang in die Öffentlichkeit gefunden. In der popularisierten Form dieser These wird unterstellt, daß die "sozialmoralischen Milieus" von Schicht und Klasse für die Entscheidungen von Individuen immer weniger Bedeutung haben. In dieser modernisierten Version einer Ideologie der "klassenlosen Gesellschaft" wird unterstellt, daß jedermann frei und unabhängig von strukturellen Zwängen über seine soziale und ökonomische Situation entscheiden muß und auch entscheiden kann. Wenn Jugendliche mit blockierten Startchancen dieses Gesellschaftsbild der "Individualisierungstheorie" akzeptieren, müssen sie sich zwangsläufig als Versager definieren, als Individuen, die aufgrund personaler Defizite nicht zu optimalen Entscheidungen in der Lage sind. Es ist dann nicht unwahrscheinlich, daß sie allmählich resignieren und aus dem Wettbewerb um attraktive gesellschaftliche Positionen aussteigen.

Blockierte Chancen - das dürfte eines der Hauptthemen für eine Jugendpolitik der Zukunft sein. Dieses Thema ist deshalb so wichtig, weil wir mit einer immer größeren Gruppe von "Gescheiterten" rechnen müssen. Für die "Gescheiterten" der Zukunft werden aber vielleicht andere Merkmale charakteristisch sein als für die "Gescheiterten" der Gegenwart.

Wir werden mit einem harten Kern von Jugendlichen rechnen können, deren Situation auf eine Benachteiligung im "klassischen Sinne" angelegt ist: Jugendliche mit niedrigem Schulabschluß und ohne Berufsausbildung, die verstärkt mit Arbeitslosigkeit und unstabilen Arbeitsverhältnissen rechnen müssen. Geht man von den Daten der Shell-Studie aus, wird der Anteil dieser Jugendlichen zwischen 10 und 15 Prozent liegen.

Es wird aber auch zunehmend Jugendliche geben, die nicht eine Benachteiligung im klassischen Sinne erleben oder antizipieren müssen. Für diese Jugendlichen wird charakteristisch sein, daß sie mit relativ hohen Erwartungen den Wettlauf um soziale Positionen beginnen, daß sie dann aber feststellen müssen, daß eine gute Ausbildung keine Garantie für soziale Chancen ist - also Jugendliche mit einem höheren allgemeinbildenden und beruflichen Ausbildungsabschluß, denen es aber nicht gelingt, die für den Statuswettbewerb so wichtigen "feinen Unterschiede" zu erwerben.

III. Familie und Sozialisation

Wenn Arbeit als ein zentrales Ordnungsmuster der Industriegesellschaft betrachtet werden kann, läßt sich eine ähnliche Feststellung auch für die Familie machen. Kaum eine andere Institution hatte für die individuelle Biographie und für die Sozialstruktur eine vergleichbare ordnungsstiftende Funktion. Bis in die sechziger Jahre hinein konnte die Familie in einer historisch noch nie dagewesenen Weise ihre Bedeutung als gesellschaftliche Institution festigen. Seit einiger Zeit können wir nun aber deutliche Anzeichen für eine Umkehr dieser Entwicklung beobachten: Für alle westlichen Industrieländer läßt sich eine Zunahme der Scheidungsziffern beobachten. In der BRD wird jede dritte Ehe geschieden, in Großstädten sogar jede zweite. Die Zahl der Scheidungen pro 10.000 bestehende Ehen hat sich von 1960 bis in die 90er Jahre mehr als verdoppelt und ist von 39 auf rund 90 gestiegen. Parallel dazu ist die Anzahl der Eheschließungen pro 10.000 Einwohner deutlich gesunken von rund 83 auf nunmehr nur noch 57. Auch Befragungen machen deutlich, daß die normative Verbindlichkeit der Institution Ehe gesunken ist. Der Anteil derjenigen, die die Ehe für eine unverzichtbare Institution halten, ging von 90 Prozent in den frühen 60er Jahren auf nunmehr nur noch 60 Prozent zurück. Gestiegen ist dagegen die Zahl der Ehen ohne Trauschein. Man schätzt, daß in der BRD rund 2 bis 3 Millionen Menschen in sogenannten nichtehelichen Gemeinschaften leben. Die Krise der Institution Ehe und Familie kommt auch darin zum Ausdruck, daß immer mehr Menschen es vorziehen, zumindest vorübergehend, aber doch oft über einen längeren Zeitraum hinweg, allein zu leben und daß Zusammenlebende immer häufiger auf Kinder verzichten. Entsprechend deutlich ist der Rückgang der Geburten von rund 18 pro 1000 Einwohner im Jahr 1965 auf nunmehr nur noch 10. Diese Veränderungen zeigen sich besonders deutlich in der Sozialstruktur von Großstädten. In Freiburg zum Beispiel beträgt der Anteil der Singles an den Haushalten mittlerweile 54 Prozent und nur noch in 17 Prozent der Haushalte leben Kinder.

Es wäre sicher falsch, wenn man angesichts dieser Entwicklungen von einem "Ende der Familie" sprechen würde. Auch ein Vergleich mit einer angeblich heilen Familienwelt in unserer vorindustriellen Vergangenheit würde zu falschen Maßstäben führen. Dennoch ist der Trend unverkennbar: Der Institutionencharakter von Ehe und Familie hat sich gelockert. Die Ehe verliert allmählich ihre faktische Monopolstellung. Alternative Lebensformen - Einelternfamilien und nichteheliche Lebensgemeinschaften - gewinnen an Bedeutung. Inzwischen gibt es statt der alten Fixierungen zahllose Wahlmöglichkeiten. Die dabei getroffenen Absprachen und Planungen sind prinzipiell aufkündbar und werden in zunehmendem Maße auch einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen. Das ökonomische Prinzip, der Homunkulus der Ökonomen, also ein zweckrational und utilitaristisch entscheidendes Individuum, wird immer mehr zu einem durchgängigen Orientierungstpyp. Das ist eine Entwicklung, die man als eine Art Grundmotiv für die gesellschaftliche Modernisierung beobachten kann: Eine zunehmende Rationalisierung und Ökonomisierung der sozialen Lebenswelten, eine damit verbundene Individualisierung und Herauslösung aus traditionalen Bindungen und Beschränkungen. In den letzten Jahren hat sich diese Dynamik immer mehr auch auf den weiblichen Lebenszusammenhang ausgedehnt - insbesondere durch das verstärkte Interesse von Frauen an einer beruflichen Tätigkeit, die sie wirtschaftlich unabhängig macht.

Welche Bedeutung haben diese Entwicklungen nun für die Situation von Kindern und Jugendlichen? Mir erscheint es wichtig, auf die mit den veränderten Familienbedingungen sich ändernden Erfahrungsmöglichkeiten hinzuweisen. Immer mehr Kinder wachsen in einem sozialen Umfeld auf, das sie in den für die Personwerdung entscheidenden Lebensabschnitten mit einem hohen Maß an Unstabilität und Unsicherheit konfrontiert. Die familiären Bedingungen für eine zunehmend größer werdende Zahl von Kindern werden den Bedingungen immer ähnlicher, die wir in einer Untersuchung der Lebensbedingungen von sozial auffälligen und durch das Jugendamt betreuten Kindern beobachten konnten: Bereits in den ersten Lebensjahren hat fast die Hälfte dieser Kinder wichtige Bezugspersonen verloren. Vom Vorschulalter bis zur Adoleszenz blieb nur bei drei Prozent dieser Kinder das soziale Bezugsfeld das gleiche. Bei ungefähr drei Vierteln dieser "auffälligen" Kinder hat sich in dieser Zeit das soziale Umfeld mindestens fünfmal in einer gravierenden Weise geändert. Wenn man nun berücksichtigt, daß Trennung oder Scheidung einer Partnerschaft auch mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen verbunden ist und neben Arbeitslosigkeit mittlerweile zur wichtigsten Armutsursache wurde, ist davon auszugehen, daß immer mehr Kinder neben Unstabilitäten in den zwischenmenschlichen Beziehungen auch wirtschaftliche Unsicherheit und Armut erfahren. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich die für "auffällige" Kinder typischen Sozialisationsmilieus immer weiter ausbreiten. Für diese Annahme sprechen die Entwicklungen im Bereich von Ehe und Familie, aber auch die Veränderungen im Bereich der Arbeitswelt. Unter diesen Bedingungen ist damit zu rechnen, daß Kinder die für eine hochindividualisierte Gesellschaft besonders wichtige Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbststeuerung nur unzulänglich erwerben. Es ist auch zu erwarten, daß immer weniger Kinder den in der Sozialisationsforschung als optimal betrachteten Erziehungstil erleben, bei dem die Eltern konsistente, klare Forderungen im Hinblick auf Regeleinhaltung stellen und mit Strenge durchsetzen, während sie gleichzeitig die notwendige emotionale Unterstützung für ihre Kinder bieten und ihnen in ihrer Beziehung untereinander ein demokratisches Modell vorleben. (Heitmeyer u.a. 1995, S. 331, Peuckert, 1997, S. 317).

IV. Soziale Integration - Normen, soziale Kontrolle und abweichendes Verhalten

In der Presse erfahren wir ständig, daß die Kriminalität wieder einmal zugenommen hat, daß auch die Gewaltdelinquenz steigt und daß in immer stärkerem Maße auch Kinder und Jugendliche daran beteiligt sind. Die dazu veröffentlichten Zahlen sind wahrscheinlich ernst zunehmen. Ich meine damit, daß es sich nicht bloß um methodische Artefakte der Kriminalitätsstatistik handelt, daß z.B. nur das Dunkelfeld kleiner geworden ist, weil die Anzeigebereitschaft zugenommen hat. Das mag durchaus sein, aber wir müssen konstatieren, daß auch unabhängig von diesen Veränderungen die Kriminalitätsbelastung spürbar zugenommen hat und wenn wir uns mit den Gründen für diese Entwicklung beschäftigen, wird vielleicht deutlich, daß es sich hier nicht nur um eine vorübergehende Zunahme handelt, sondern daß durchaus auch mit einem weiteren Kriminalitätswachstum zu rechnen ist.

Um die Zunahme der Kriminalitätsbelastung zu erklären, bieten sich eine konflikttheoretische und eine kontrolltheoretische Argumentation an.

Aus konflikttheoretischer Sicht ist insbesondere auf die veränderten ökonomischen Bedingungen zu verweisen: Verlangsamtes Wirtschaftswachstum mit wiederkehrenden tiefen Rezessionen, Automations- und Rationalisierungsschübe bedingt durch den Einsatz neuer Technologien und durch eine Verstärkung der Konkurrenz auf den internationalen Märkten, als Folge davon steigende Arbeitslosigkeit, Entwertung von beruflichen Kompetenzen, Perspektivenlosigkeit und die Verbreitung von Armut. Eine immer größer werdende Zahl von Individuen gerät in eine Situation, in der es nicht mehr möglich ist, die als angemessen, gerecht oder auch nur wünschenswert anerkannten Standards der Lebensführung auf legale Weise zu realisieren. Dieses Erleben einer Diskrepanz von Mitteln und Zielen - wie sie in der Anomie-Theorie von Merton zur Erklärung von deviantem Verhalten herausgearbeitet wird -, hat mit Sicherheit zugenommen und dürfte eine wesentliche Ursache für die gestiegene Kriminalitätsbelastung sein.

Auch aus kontrolltheoretischer Sicht läßt sich dieser Anstieg erklären, wobei die erklärenden Argumente sich auf die Frage beziehen, unter welchen Bedingungen es zu einer Abschwächung von inneren und äußeren Kontrollen kommen kann. Drei miteinander verbundene Gesichtspunkte erscheinen mir besonders wichtig: (1) Die Ausweitung ökonomischer Entscheidungspraktiken, (2) ein Trend zur Verringerung der sozialen Verankerung von Individuen und (3) eine Tendenz zur abnehmenden Selbstkontrolle.
 

(1) Wir können in unserer Gesellschaft einen deutlichen Trend zur Ökonomisierung in allen Lebensbereichen feststellen. Der Homunkulus der Ökonomen - der homo öconomicus - eignet sich immer besser zur Erklärung von menschlichem Handeln auch in nicht-ökonomischen Bereichen. Das hat besonders eindrucksvoll Gary S. Becker gezeigt, der dafür auch mit dem Nobel-Preis belohnt wurde. Diese Entwicklung bedeutet, daß Handlungen immer mehr unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten entworfen werden. Becker konnte zeigen, daß sich mit dieser Annahme auch so un-ökonomische Entscheidungen wie die Wahl eines Partners oder die Entscheidung zu Kindern recht gut erklären lassen. Dieses Modell läßt sich aber auch zur Erklärung von abweichendem Verhalten verwenden. Dabei läßt sich in einer "ersten Stufe" zeigen, daß die Verletzung einer sozialen Norm nahezu immer die effizientere und ökonomischere Variante ist. Wenn Normadressaten anfangen, in einer normtypischen Situation in einer rationalen Weise die möglichen Kosten mit dem zu erwartenden Nutzen zu vergleichen, werden sie sich fast immer für die Normverletzung entscheiden. Sie können das einmal selber ausprobieren: Kalkulieren Sie einmal ganz rational die Alternativen "ein Buch kaufen" oder "ein Buch stehlen". Wenn Sie in einer realistischen Weise die sehr geringe Sanktionswahrscheinlichkeit einschätzen, ist Ihre Entscheidung leicht vorhersagbar. Ob Sie nun tatsächlich irgendwann einmal ein Buch stehlen, hängt dann von den folgenden Bedingungen ab:

Erstens, daß Sie überhaupt eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung durchführen, daß Sie also nicht aus Gewohnheit oder aus innerer Überzeugung das Buch kaufen. Und, zweitens, für den Fall, daß Sie Kosten und Nutzen abwägen sollten, dürfen für Sie moralische Kosten keine allzu große Bedeutung haben.

Diese beiden Bedingungen sind mit "Ökonomisierung" gemeint: daß in einer normierten Situation überhaupt ein Risiko-Nutzen-Kalkül stattfindet und daß dann moralische Kosten keinerlei Bedeutung haben, sondern nur ökonomische Faktoren - also der Nutzen in Geld- oder Zeiteinheiten - eine Rolle spielen. Es ist anzunehmen, daß derartige ökonomische Entscheidungspraktiken in zunehmendem Maße bedeutsamer geworden sind. Das hängt damit zusammen, daß die Ökonomie und damit auch die ökonomische Denkweise immer mehr zur zentralen und bestimmenden Einrichtung bzw. Praxis in unserer Gesellschaft geworden sind. Die Ausbreitung der ökonomischen Praxis bedeutet aber auch, daß mit einer Zunahme von abweichendem Verhalten zu rechnen ist, denn Normensysteme können alles mögliche verkraften, aber nur eines nicht und das sind Normadressaten mit einer Disposition zu rationalem Handeln.

Hier sei am Rande angemerkt, daß dieser Trend zur Ökonomisierung auch noch mit ganz anderen Problemen verbunden ist - eines der wichtigsten ist das Problem des Trittbrettfahrens: es läßt sich zeigen, daß Individuen mit einer Disposition zu rationalem Handeln kaum dazu zu bewegen sind, sich für kollektive Güter einzusetzen - z.B. für eine saubere Umwelt oder für Gerechtigkeit. Die vom Kommunitarismus vorgetragene Kritik bezieht sich zu einem großen Teil auf diese Ökonomisierung und als Gegenbewegung wird eine Widerbelebung des moralischen Diskurses gefordert.

(2) Ein zweiter wichtiger kontrolltheoretischer Aspekt hat etwas mit "Individualisierung" zu tun. Das ist ein Begriff, der mittlerweile zur Alltagssprache gehört. Wir alle sind ziemlich überzeugt davon, daß wir in einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an Individualisierung leben. Nun ist das nicht nur ein sehr populärer, sondern auch ein ziemlich unklarer Begriff. Damit wird alles mögliche gemeint: wie z.B. zunehmende Autonomie, zunehmende Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Festlegungen oder zunehmende Eigenständigkeit. Ich will hier keine Begriffsklärung betreiben, sondern auf einen Aspekt eingehen, der sicher auch etwas mit Individualisierung zu tun hat und der auch für die Erklärung von abweichendem Verhalten recht wichtig ist. Wie wichtig dieser Aspekt ist, wurde mir in einer eigenen Untersuchung deutlich. Wir haben Leuten aus drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen die Aufgabe gestellt, 10 Antworten auf die Frage "Wer bin ich?" zu geben. Mehr durch Zufall bestand eine dieser Teilstichproben aus Straftätern, also Personen, die für eine Rechtsverletzung bestraft wurden. Die anderen Gruppen waren Soziologiestudenten und Verwaltungsinspektoren. Die Antworten wurden danach ausgewertet, wie häufig zur Selbstbeschreibung soziale Kategorien verwendet wurden und wie häufig individualisierende Attribute genannt wurden. Soziale Kategorien sind z.B. Rollen wie "Vater", "Kind", "Student", "Beamter". Individualisierende Attribute sind Aussagen wie "ich bin oft lustig", "ich bin stark", "ich habe rote Haare". Nicht ganz unerwartet war das Ergebnis: Am häufigsten wurden soziale Kategorien von den Verwaltungsinspektoren genannt, am zweithäufigsten von den Soziologiestudenten und die Straftäter haben so gut wie keine sozialen Kategorien verwendet. Sie waren in einem gewissen Sinne hochindividualisiert - in dem Sinne zumindest, daß sie ihre persönliche Identität nicht oder nur in einem sehr geringen Maße in einem sozialen Kontext verankert sehen. Was hat das nun mit abweichendem Verhalten zu tun? Genauer: mit einer kontrolltheoretischen Erklärung von abweichendem Verhalten. Dieses Ergebnis läßt wohl zweierlei vermuten. Zum einen ist davon auszugehen, daß die Straftäter ihre Situation zu einem großen Teil realistisch einschätzen. Sie sind in einem objektivierbaren Sinne weniger sozial verankert als die Verwaltungsbeamten und die Studenten. Das heißt aber auch, daß für sie soziale Kontrollen und Angst vor Sanktionen durch andere signifikante Personen höchstwahrscheinlich eine sehr viel geringere Bedeutung besitzen. Zum anderen kann auch vermutet werden, daß bei den Straftätern die Gesellschaft als eine verinnerlichte Kontrollinstanz weniger präsent ist - deswegen, weil gesellschaftliche Kategorien für das Empfinden einer persönlichen Identität eine sehr viel geringere Bedeutung besitzen.

Was spricht nun für die Annahme, daß sich dieser Identitätstypus mit seiner schwachen sozialen Verankerung weiter ausbreitet, daß Straftäter vielleicht die Avantgarde eines neuen Identitätstyps sind? Ich denke, es spricht einiges dafür: insbesondere die Lockerung von sozialen Bindungen und der Verlust von Möglichkeiten zur Verankerung der Identität in einem sozialen Kontext durch Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, Verlust von Partnern durch Trennung oder Scheidung, oder häufiger Wechsel von Bezugspersonen als prägende Erfahrung im Sozialisationsprozeß. Natürlich heißt das nicht, daß in allen diesen Situationen dann automatisch auch eine Tendenz zu kriminellen Handlungen manifest wird. Es ist nur wahrscheinlich (auch nicht sicher), daß bestimmte Kontrollen - innere wie auch äußere - wegfallen oder eine geringere Bedeutung bekommen.

(3) Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen, den man im weitesten Sinne als Fähigkeit zur Selbstkontrolle bezeichnen könnte. Nach Norbert Elias hat sich diese Fähigkeit in einem langdauernden Prozeß der Zivilisation herausgebildet. Wir können unsere Affekte immer besser beherrschen und unser Verhalten wird immer zivilisierter. Elias hat diesen Prozeß der Ablösung von Fremd- durch Selbstzwänge durch gesellschaftliche Veränderungen erklärt: durch die Entstehung von Staaten, d.h. durch die Herausbildung von stabilen Gewaltmonopolen, durch die damit verbundene Pazifizierung im Inneren und durch die Zunahme von Verflechtungen und Interdependenzen. Nun ist es mittlerweile etwas zweifelhaft, ob sich dieser Prozeß kontinuierlich fortsetzt. Wir sehen immer deutlicher, daß zusätzlich zu den von Elias genannten Bedingungen auch andere Faktoren eine große Rolle spielen. Zu nennen sind insbesondere die "Übermittlungsinstanzen", die zu einer Anpassung der psychischen Struktur an die sozialen Bedingungen beitragen - zu nennen sind insbesondere: Schule, Familie und Arbeit. Ob diese Institutionen noch in ausreichender Weise dazu beitragen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbstregulierung zu vermitteln, wird immer fragwürdiger. In diesem Zusammenhang wäre zu untersuchen, in welchem Umfang die Familie noch in der Lage ist, zur Selbstkontrolle zu sozialisieren. Auch der Einfluß der Medien und der modernen Konsumgüterwerbung müßte unter diesem Gesichtspunkt bestimmt werden. Die Schule als Sozialisationsinstanz muß in vielerlei Hinsicht fehlende Leistungen in der Familie ausgleichen und ist damit offensichtlich überfordert. Und auch die Arbeitswelt kommt für immer mehr Jugendliche als Instanz zur Vermittlung von Selbstkontrolle nicht mehr in Frage.

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Sozialer und ökonomischer Wandel lockern die gesellschaftliche Integration: davon sind die Beziehungen zu anderen Personen oder Institutionen betroffen, die faktische Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen, bzw. die Verfügbarkeit über Positionen, aber auch die Pluralisierung von Wert- und Normvorstellungen. Im Zuge dieser Entwicklung verstärken sich Spannungen und anomische Konflikte, die den Anreiz für abweichendes Verhalten erhöhen. In diesem Prozeß werden auch innere und äußere Kontrollen abgeschwächt. Die psychischen Strukturen der Menschen gleichen sich in gewisser Weise den sozialen Strukturen an. Durch diese Angleichung entsteht eine Tendenz zu einem Verhaltenstyp, der deutlich von dem von Norbert Elias beschriebenen Muster des selbstkontrollierten und selbstregulierten Handelns abweicht und den G.C.Homans als "elementares Verhalten" bezeichnet: ein Verhalten, das in hohem Maße affektuell bestimmt ist, sehr deutlich utilitaristische Züge aufweist und auf dem Abwägen von Kosten und Nutzen beruht. Aufgrund dieser Entwicklungen wird man wohl davon ausgehen können, daß die Belastung mit Kriminalität nicht abnehmen, sondern eher steigen wird.

V. Öffentliche Räume - Erlebnisse

Ich wurde einmal gebeten, in einem Vortrag zu zeigen, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen "zerstörter Stadt" und "zerstörter Kindheit", und zwar derart, daß unsere Kinder unter der "Zerstörung unserer Städte" leiden. Meine Auftraggeber haben sich auf die Freiburger Kinderstudie berufen und haben wohl erwartet, daß ich dazu etwas sagen kann. Das habe ich auch getan, aber ich habe gezeigt, daß das Hauptproblem unserer Kinder nicht die "Zerstörung von Stadt" ist - zumindest dann nicht, wenn man unter "Zerstörung" einen Prozeß versteht, der Entropie, also Unordnung, erzeugt. Unsere Städte sind alles andere als zerstört - im Gegenteil: Sie sind in höchstem Maße geordnet. Alles hat seinen Platz. Das Stadtgebiet ist differenziert in Orte zum Arbeiten, Einkaufen und Wohnen; es gibt Erlebnisorte für die Freizeit und es gibt spezielle Orte für Kinder: neben Kindergarten und Schule vor allem die so schönen und aufwendigen Spielplätze, die doch nur wenig das Interesse von Kindern finden. Auch hier herrscht Ordnung - an den Bestimmungen des TÜV orientiert aber leider nicht an den Bedürfnissen von Kindern. Ich habe den Eindruck, daß viele unserer Kinder eher unter einem Übermaß an Ordnung leiden - zumindest wenn es um Außenräume geht. Und Erwachsene, die sich darüber aufregen, daß Kinder "die öffentliche Ordnung stören", sehen gar nicht, daß man es auch umgekehrt sehen kann, daß die öffentliche Ordnung - die Ordnung im öffentlichen Raum - die Kinder stört.
 

Im Zuge der Stadtentwicklung haben sich die Räume für Kinder und Jugendliche verändert und damit auch ihre Möglichkeiten, eigene Erfahrungen zu erwerben, sich in einer produktiven Weise mit ihrem Umfeld auseinanderzusetzen und zu Erlebnissen zu kommen. Was sich für Kinder unter diesen topographischen Gesichtspunkten verändert hat, läßt sich durch vier Hypothesen beschreiben:

1. Wir können einen Trend zur Verhäuslichung von Kindheit beobachten: Binnenräume gewinnen für den Kinderalltag an Bedeutung und Außenräume werden unwichtiger.

2. Wir können beobachten, daß Kindheit immer mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet: Ein immer größerer Teil des Kinderalltags findet in privaten oder halböffentlichen Räumen statt - der öffentliche Raum wird von Kindern immer weniger genutzt.

3. Wir können einen Trend zur organisierten Kindheit feststellen: Ein zunehmender Teil des Kinderalltags findet in organisierten und kontrollierten Räumen statt und offene, nicht festgelegte, nicht festlegende Räume verlieren an Bedeutung.

4. Wir können einen Trend zur Medienkindheit beobachten - derart, daß fiktive und simulierte Räume für den Kinderalltag an Bedeutung gewinnen und die Bedeutung von realen Räumen abnimmt.

Die Gründe für diese Entwicklung sind bekannt: An erster Stelle ist die seit den 60er Jahren betriebene Politik der Stadtentwicklung zu nennen - eine Entwicklung, die mittlerweile auch in ländlichen Regionen beobachtbar ist. Im Verlauf dieser Entwicklung sind immer mehr Freiräume für Kinder verschwunden. Baulücken wurden zugebaut, die Städte verdichtet. Der Nahbereich der Wohnungen hat seine Aufenthaltsfunktion verloren und wird immer mehr für den Verkehr genutzt. Er wurde entweder gefährlich oder langweilig und nicht selten beides. Im Verlauf dieser Entwicklung gingen den Kindern in der Stadt immer mehr Aktionsräume verloren. Aktionsräume sind Territorien, die für Kinder zugänglich sind, die relativ gefahrlos sind, die gestaltbar sind und wo es Interaktionschancen mit anderen Kindern gibt.

Parallel zu dieser Entwicklung haben sich andere Bedingungen verändert und zwar - wenn man alles zusammennimmt - immer mehr in Richtung einer "Inszenierung von Kindheit" (E. Beck-Gernsheim). Einige dieser Veränderungen sind Reaktionen auf die Stadtentwicklung - z.B. die Einrichtung von Kinderspielplätzen, welche die Funktion von Reservaten oder Ghettos übernehmen. Andere Entwicklungen verliefen parallel zur Stadtentwicklung, z.T. auch ganz unabhängig davon. Dazu zählt z.B. die enorme Zunahme unseres Wissens über die psycho-soziale Situation von Kindern. Die Expansion von Ausbildungsgängen für professionelle Problemdefinierer und -löser - eine Bewegung, die im Endeffekt zu einer dramatischen Psychologisierung von Kindheit geführt hat und sicher auch eine Nachfrage der Eltern bedient, aber andererseits auch dazu beiträgt, diese Nachfrage zu schaffen. Zu nennen sind natürlich auch technische und kulturelle Entwicklungen auf dem Gebiet der Medien, insbesondere auf dem Gebiet der Übertragungstechniken und -systeme - Kabel-/Satelliten-TV - und auf dem Gebiet der Informationstechnologie: Durchsetzung des Prinzips der Digitalisierung und exponentielle Leistungssteigerung bei rapidem Preisverfall für die Universalmaschine Computer. Zu nennen sind auch Entwicklungstrends im Bereich Lebensstandard und Wohnen: Ein deutlicher Anstieg des durchschnittlichen Wohnstandards. Immer mehr Kinder haben ein eigenes Zimmer. Auch eine dramatische Steigerung der Investitionen in die Ausstattung von Kinderzimmern - mit der Konsequenz, daß sich die relative Attraktivität immer mehr zugunsten der privaten Binnenräume und zuungunsten der öffentlichen Außenräume verändert hat. Auch auf diesem Gebiet läßt sich eine Interaktion von Angebot und Nachfrage beobachten: Eine Nachfrage, die von Eltern und Kindern ausgeht - z.T. als Kompensation für fehlende Alternativen - aber auch ein Angebot, das an wirtschaftlichen Chancen orientiert ist und sich eine entsprechende Nachfrage schafft. Wie gut das funktioniert, zeigt die letzte Entwicklung auf diesem Gebiet: das Tamagochi, also die Erfindung eines elektronischen Haustieres, für das es natürlich nie ein wirkliches Bedürfnis gab, das nun aber aus dem Alltag vieler Kinder fast nicht mehr wegzudenken ist.

In zwei aufwendigen Untersuchungen konnten wir nun zeigen, daß diese Trends außerordentlich stark von Bedingungen abhängen, die im kommunalen Rahmen beeinflußbar sind.(1) Alle diese Tendenzen - Verhäuslichung, organisierte Kindheit, Verschwinden von Kindern aus dem öffentlichen Raum und Medienkindheit - sind dann besonders stark ausgeprägt, wenn Kinder in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld keine oder nur sehr schlechte Aktionsräume haben. Ob es solche Aktionsräume gibt, hängt also ganz wesentlich von der kommunalen Stadt- und Verkehrsplanung ab und davon, was für Freiräume für Kinder angeboten werden: ob die TÜV-geprüften Wackeltierspielplätze oder Räume, die eher an Baulücken erinnern. Unsere Vorschläge wurden in Freiburg z.T. umgesetzt und in Rheinland-Pfalz läuft nun ein Programm an, das auf den Erkenntnissen dieser Untersuchungen aufbaut. Hinter diesen Programmen steht die Idee, daß Kinderpolitik nicht mehr so betrieben werden kann wie in der Vergangenheit: als eine Politik, die im wesentlichen von Sozialexperten getragen wird und wo es eigentlich fast immer um weitere Einrichtungen zur Betreuung, Behandlung oder Therapie geht. Kinderpolitik muß vielmehr vernetzt betrieben werden und das heißt - wenn es um Außen- und Erlebnisräume geht - daß auch Raumexperten daran teilhaben müssen, also Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner.
 

Diese Neuorientierung ist wichtig, denn fehlende Aktionsräume beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität von Kindern, sondern auch ihre Entwicklungschancen.

Ein Hamburger Institut - eine Gruppe von Medizinern, Psychologen und Bewegungstherapeuten - hat festgestellt, daß motorische Störungen bei Kindern zunehmen und daß sich vielleicht auch andere Defizite, wie z.B. Legastenie, damit in Verbindung bringen lassen.

Sehr deutlich ist für mich auch der Zusammenhang zwischen dem Fehlen von geeigneten Aktionsräumen und der Kreativitätsentwicklung von Kindern. Wenn wir Kreativität - einem Vorschlag von Heinrich Popitz folgend - auf drei Ebenen beschreiben wollen, als Erkunden, Herstellen und Sinnstiften, dann ist mit Defiziten in diesen Bereichen zu rechnen:

(1) Wenn Kinder sich nicht mehr frei, unkontrolliert und spontan betätigen können, so leidet darunter sicher die Entwicklung ihres Neugierverhaltens.

(2) Wenn Kinder in festgelegten und organisierten Räumen aufwachsen, wo man nichts verändern oder herstellen kann, so werden sie nicht die für einen Hersteller typischen Orientierungen erwerben, sondern die eines Konsumenten. Sie werden vor allem ein Interesse an "funktionalem Wissen" entwickeln: wofür kann ich dieses und jenes brauchen, welchen Nutzen hat das für mich? Hersteller wollen das auch wissen, aber sie sind auch an "kausalem Wissen" interessiert: Wie entsteht dieses Ding? Was muß man tun, damit eine Beziehung geschaffen wird? Wie kann man Dinge und Beziehungen verändern?

(3) Wenn Kinder in langweiligen Räumen aufwachsen, wo man nichts erleben kann oder in Räumen, wo man keine eigenen Erfahrungen machen kann, sondern nur Erfahrungen aus zweiter Hand, so werden sie vielleicht Fähigkeiten entwickeln, die denen der "Künstlichen Intelligenz" sehr ähnlich sind: hochentwickelte formale Kompetenzen, aber eine unterentwickelte Semantik. Sie werden immer besser kommunizieren können, aber sie wissen nicht mehr worüber.
 

Hier stellt sich auch die Frage, wie denn der neue "Sozialcharakter" aussehen könnte, der dann vielleicht entsteht, wenn nichts getan wird, um Aktionsräume für Kinder zu sichern. Die Frage nach dem für eine Kultur typischen Sozialcharakter ist fast so alt wie die Geschichte der Sozialwissenschaften und wir werden immer wieder mit neuen "repräsentativen Figuren" konfrontiert. So wurde z.B. der "NST" in die Welt gesetzt, der "neue Sozialisationstyp". Und von den Kommunitariern wurde die Meinung vertreten, daß die Figur des "mündigen Bürgers" in den modernen Industriegesellschaften von den Figuren des "Therapeuten" und des "Managers" abgelöst wurde. Für unsere "postmodernen Gesellschaften" mit dieser veränderten Topographie von Kindheit bietet sich nun eine ganz andere Figur an, nämlich die des "Systemanalytikers", der über hochentwickelte formale Kompetenzen verfügt, aber nur über eine eingeschränkte Semantik, der eher ängstlich und besorgt ist, wenn es um Vorgänge in der wirklichen Welt geht, der sich aber in simulierten und fiktiven Welten zuhause fühlt. Glücklicherweise sind wir noch ziemlich weit davon entfernt, daß sich eine solche Figur durchsetzt, aber wenn wir uns nicht politisch um die Sicherung und Schaffung von Aktionsräumen für Kinder bemühen, ist eine Entwicklung in diese Richtung nicht ausgeschlossen.
 

***
 

Wie kann man nun das alles, was ich Ihnen erzählt habe, zusammenfassen? Ich denke, das geht nicht besonders gut. Aber ich will zumindest versuchen, thesenartig die Punkte herauszustellen, die mir für Ihre Bemühungen um eine "Jugendhilfe 2000+" besonders wichtig erscheinen:

1. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß Arbeit in der Form von bezahlter Erwerbsarbeit weiter abnehmen wird. Damit entstehen nicht nur wirtschaftliche Probleme für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen, sondern auch Sinn- und Orientierungsprobleme.

2. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß die jetzt heranwachsenden Kinder und Jugendlichen die erste Generation sein wird, die von sinkenden Erwartungen ausgehen muß - sowohl im Hinblick auf Chancen für attraktive Positionen, wie auch hinsichtlich des materiellen Lebensstandards.

3. Es ist zu erwarten, daß aufgrund der Entwicklungen im Bereich von Ehe und Familie aber auch aufgrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt der Anteil der Kinder und Jugendlichen zunehmen wird, die unter unstabilen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen aufwachsen und deren Sozialisationserfahrungen durch diese Unstabilitäten geprägt sein werden.

4. Es ist auch damit zu rechnen, daß anomische Konfliktsituationen, die mit einem Anreiz zu delinquentem Verhalten verbunden sind, an Bedeutung zunehmen werden.

5. Wir müssen damit rechnen, daß sich innere und äußere Kontrollen weiter abschwächen werden, daß insbesondere unter unstabilen familiären Bedingungen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbststeuerung nur unzureichend vermittelt wird, daß sich ein an ökonomischen Prinzipien ausgerichtetes Kosten-Nutzen-Denken weiter durchsetzt und daß die soziale Verankerung von Individuen weiter abnehmen wird.

6. Wenn wir uns im kommunalen Bereich nicht durch eine entsprechende Politik der Stadtentwicklung um geeignete Aktionsräume für Kinder bemühen, werden Verhäuslichung, organisierte Kindheit und Medienkindheit an Bedeutung gewinnen und die Zahl der Kinder, die in ihrer Kreativitätsentwicklung beeinträchtigt werden, wird zunehmen.

Was für Folgerungen lassen sich nun aus diesen Annahmen über künftige Enwicklungen für eine Kinder- und Jugendpolitik 2000+ ziehen? Es ist mir gewiß nicht möglich, nun ein fertiges Programm zu formulieren - damit würde ich ja auch nur Ihre Arbeit an diesem interessanten Projekt überflüssig machen - ich möchte Ihnen aber einige Stichworte zu Ideen nennen, die mir zu diesem Thema eingefallen sind:

1. Ich halte es für wichtig, daß wir Kinder und Jugendlichen mit einem höheren Maß an Verbindlichkeit begegnen, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Das bedeutet, daß wir uns mehr für die Regeln und Prinzipien einsetzen müssen, die wir für wichtig halten. Wir dürfen uns nicht mehr aus falsch verstandener Liberalität an der Produktion von normativen Leerläufen beteiligen. Konkret heißt das zum Beispiel, daß wir wieder lernen müssen, den Wert von Umgangsformen und zivilisiertem Verhalten zu schätzen und daß wir das dann auch an unsere Kinder weitergeben: in der Familie, in der Schule, in Jugendzentren, im öffentlichen Raum.

2. Wir müssen zu einer fairen Form von Partnerschaft bereit sein und Partizipationsmöglichkeiten anbieten und auf diese Weise nicht nur das Engagement von Kindern und Jugendlichen am Gemeinwesen wecken, sondern es muß auch erkennbar werden, daß sich auf diese Weise etwas bewirken läßt. Die von der Politik ins Leben gerufenen Programme zur Wiederbelebung des bürgerschaftlichen Engagements haben einen großen Fehler: Sie setzen nur bei den Bürgern an, motivierend und missionierend, aber sie berücksichtigen überhaupt nicht, daß den Entscheidungsträgern in Verwaltung und Politik auch die Einsicht in den Sinn von Beteiligung vermittelt werden muß. In der Frankfurter Rundschau las ich neulich einen Bericht über eine Schule, in der die Schüler sich monatelang mit der Entwicklung von Plänen zur Verkehrsberuhigung in ihrem Schulbereich beschäftigt haben. Die einzige Reaktion der Verwaltung bestand dann darin, zu zeigen, daß sich nichts davon realisieren läßt. Auf diese Weise wird nicht nur Politikverdrossenheit erzeugt, sondern auch die für den kosten-nutzen-kalkulierenden Homo Öconomicus charakteristische Haltung des Trittbrettfahrens.

3. Wir müssen im kommunalen Bereich mehr Mut zum Unfertigen haben: weniger organisierte Angebote, weniger teuer und aufwendig möblierte Spielplätze, weniger voll ausgebaute und perfekt eingerichtete Räume für Jugendliche - statt dessen: Chancen und Gelegenheiten, mit denen Kinder und Jugendliche dann selber etwas anfangen können, selber etwas machen müssen, wofür sie dann auch selber verantwortlich sind - z.B. öffentliche Freiräume, die an eine Baulücke erinnern; Plätze, auf denen Jugendliche sich selber eine half-pipe oder eine Bude bauen können; Räume, die als Treffpunkte und für Veranstaltungen selber ausgestaltet und eigenverantwortlich betrieben werden. Auf diese Weise sparen die Kommunen nicht nur viel Geld. Sie tun auch etwas sehr wichtiges: Sie regen Phantasie und Kreativität an.

4. Wenn man unbedingt eine neue Institution schaffen will, plädiere ich für einen allgemeinen und obligatorischen Bürgerdienst, der eine dritte Säule im Bildungssystem sein könnte, neben Schule und Berufsausbildung. Ein solcher Bürgerdienst könnte sich mit attraktiven Aufgaben beschäftigen, die Jugendliche begeistern können, die Spaß machen, Neugier wecken, Erlebnisse vermitteln, den Kontakt und die Zusammenarbeit mit anderen ermöglichen und obendrein noch für das Gemeinwesen nützlich sind. (Z.B....Mitarbeit bei der Sanierung des Wattenmeeres oder von Altstadtvierteln, Aufforstungsarbeiten, Aufbau eines kommunalen Informationszentrums mit internet-Zugang, Hilfe in Bädern, Museen und Bibiliotheken um Öffnungszeiten zu verlängern...) Ein solcher Bürgerdienst, ein Jahr lang, vom Staat finanziert, dezentral und selbstverwaltet, würde mehr bewirken als die vagen Appelle an eine Wiederbelebung des Gemeinsinns. Die Chance für eine gesetzliche und verpflichtende Verankerung eines solchen Dienstes sind wahrscheinlich nicht besonders gut - aber man könnte damit beginnen, daß die Teilnahme daran mit so attraktiven Belohnungen verbunden ist, daß Jugendliche sich dem kaum entziehen können - z.B. Bonus bei der Zulassung zu einem Studium, Hilfe bei der Existenzgründung, eine Bescheinigung für die erworbenen Fähigkeiten, die sich bei Bewerbungen vorlegen läßt.

20 März 1998

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