Pflege im sozialen Wandel

Die Situation von Pflegebedürftigen nach Einführung der Pflegeversicherung
(Kurzbeschreibung der "Freiburger Pflegestudie", siehe auch Buchpublikation: Blinkert, Baldo; Klie, Thomas: Pflege im sozialen Wandel. Die Situation der Pflegebedürftigen nach Einführung der Pflegeversicherung, Hannover (Vincentz-Verlag) 1999.)

Wie sieht die Situation von pflegebedürftigen älteren Menschen nach Einführung der Pflegeversicherung aus? Das ist im weitesten Sinne die Fragestellung dieser Studie, die damit eine der ersten umfangreichen und auf repräsentativer Basis durchgeführten Untersuchungen nach Einführung der Pflegeversicherung ist. Die Studie ist einem "milieuorientierten Ansatz" verpflichtet, der Modernisierungsunterschiede für die soziale und biographische Situation von Pflegebedürftigen herausarbeitet, um die unterschiedlichen Wirkungen der Pflegeversicherung je nach sozialer Lage aufzuzeigen. Die Untersuchung zeigt also, wie unter sehr verschiedenen sozialen und biographischen Bedingungen die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen in häusliche, informelle Pflegearrangements integriert und "verarbeitet" wird (vgl. Abbildung 1).

In einem persönlichen Interview wurden im September und Oktober 1996, also circa eineinhalb Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung 1.234 in Privathaushalten versorgte pflegebedürftige ältere Menschen (ab 60 Jahre), bzw. deren Angehörige, in ausgewählten Orten von Baden-Württemberg befragt (vgl. Abbildung 2). Als Interviewer und Interviewerinnen waren Fachkräfte aus Einrichtungen der Alten- und Krankenpflege und Studierende aus den Studiengängen Pflegepädagogik/ Pflegemanagement tätig.

Die Untersuchung ist so angelegt, daß sie als Panelstudie - d.h. als Befragung bei den gleichen Personen - wiederholt werden kann. Auf diese Weise könnte untersucht werden, wie sich die soziale Situation von Pflegebedürftigen und ihre Pflegearrangements im Zeitverlauf verändern. Nahezu 90 Prozent der Befragten wären bereit, an einer solchen Wiederholungsuntersuchung erneut teilzunehmen.

1. Sozialer Wandel - Modernisierung - Individualisierung und die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen durch informelle soziale Unterstützungsnetze

Ein Schwerpunkt der Untersuchung ist die Frage, wie sich der gesellschaftliche Wandel auf die Versorgungssituation von pflegebedürftigen älteren Menschen auswirkt. Für die in Privathaushalten lebenden Pflegebedürftigen besitzt ein wichtiger Aspekt dieses Wandels - der Trend zur Individualisierung - noch keine sehr große Bedeutung. Nur bei einer kleinen Minderheit von rund 10 Prozent der Pflegebedürftigen kann man eine relativ deutliche Tendez zu einem "modernen Lebensentwurf" erkennen: Sie haben keine Kinder oder nur ein Kind, sind ledig oder geschieden oder leben vom Partner getrennt. Sie haben einen mittleren oder höheren Schulabschluß und leben noch nicht sehr lange in ihrem Wohnumfeld. Eher "Vormoderne" Verhältnisse überwiegen auch, was die informellen Unterstützungsnetzwerke von Pflegebedürftigen angeht: 85 Prozent verfügen über ein stabiles Unterstützungsnetzwerk (vgl. Abbildung 3). Sie leben mit Angehörigen zusammen im gleichen Haushalt, in der gleichen Wohnung, im gleichen Haus. Pflegebedürftige mit einem stabilen sozialen Netz können mit einer hohen Unterstützungswahrscheinlichkeit rechnen. Nahezu alle sagen, daß sie regelmäßig im erforderlichen Umfang Hilfe erhalten. Labile und prekäre Unterstützungsnetzwerke sind gegenwärtig nur für die soziale Situation von einer Minderheit der Pflegebedürftigen charakteristisch (15 Prozent). Art und Stärke des informellen Netzwerkes korrelieren sehr stark mit biographischen Bedingungen und mit Stadt-Land-Unterschieden: Stabile Netzwerke kommen deutlich seltener bei Pflegebedürftigen mit einem "modernen Lebensentwurf" vor, und mit zunehmender Urbanisierung verringert sich der Anteil der Pflegebedürftigen mit einem stabilen Netzwerk.

2. Pflegearrangements

In der Studie wird ausführlich untersucht, welche Pflegearrangements sich unter verschiedenen biographischen und sozialen Bedingungen entwickeln und welchen Stellenwert dabei die Pflegeversicherung hat. Die Ergebnisse werden in einer "Hilfe-Helfer-Matrix" zusammengefaßt, mit der sich sehr genau verschiedene Arrangement-Typen beschreiben lassen (vgl. Abbildung 4).

Die Untersuchung zeigt, wie außerordentlich groß die Bedeutung des informellen Unterstützungsnetzwerkes für die Versorgung von Pflegebedürftigen ist: 87 Prozent aller Hilfen werden durch das informelle Netz - also nicht von beruflichen Helfern - geleistet. Ein ähnlich hoher Anteil wurde auch vor Einführung der Pflegeversicherung in zahlreichen Untersuchungen beobachtet, d.h. durch die Pflegeversicherung hat sich an der relativen Bedeutung von informellen und beruflichen Hilfen nicht viel geändert.

Die Struktur von Pflegearrangements läßt sich in erster Linie durch die Stabilität des informellen sozialen Unterstützungsnetzwerkes erklären. Pflegearrangements von Pflegebedürftigen mit stabilen Netzwerken unterscheiden sich insbesondere in den folgenden Punkten sehr stark von den Arrangements bei prekären und labilen Netzwerken: bei der Anzahl der erhaltenen Hilfen; im Anteil der beruflich geleisteten Hilfen; bei der Inanspruchnahme von ambulanten Diensten und Kurzzeitpflege; in den Anteilen der von Ehegatten und Kindern erbrachten Hilfeleistung; im Umfang, in dem Freunde, Bekannte und Nachbarn an der Hilfe beteiligt sind und im Umfang einzelner Hilfearten, vor allem bei den hauswirtschaftlichen Hilfen, den Mobilitätshilfen und den körperbezogenen Hilfen. Einen ebenfalls erheblichen Einfluß auf das Pflegearrangement hat es, wenn Pflegebedürftige demenzerkrankt sind. Ceteris paribus (bei gleicher Pflegestufe) ist bei den Demenzerkrankten die Anzahl der erhaltenen Hilfen deutlich größer als bei Pflegebedürftigen ohne Demenzsymptome. Die Ergebnisse zeigen, daß Demenz mit Hilfeaufwendungen verbunden ist, die durch die Eingruppierung in eine Pflegestufe nicht oder nur sehr unzulänglich erfaßt werden.

Mit zunehmendem Alter verändert sich die Struktur des Pflegearrangements: Das traditionelle Muster der Veränderung ist die Verlagerung von einer durch den Ehegatten geleisteten Hilfe zu Hilfen, die von den Kindern oder Schwiegerkindern erbracht werden. Beide Helfergruppen - Partner und Kinder - haben in allen Altersgruppen einen Anteil von rund 70 bis 75 Prozent an allen Hilfen. Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil der Partnerhilfe von 60 Prozent auf unter 10 Prozent und der Anteil der Kinderhilfe steigt von etwas über 10 Prozent auf rund 65 Prozent. Diese Veränderung in den Anteilen läßt sich als "traditionelles Muster" bezeichnen, weil es sich besonders in der Gruppe der "vormodernen Pflegebedürftigen" und bei einem stabilen Unterstützungsnetzwerk beobachten läßt. Von diesem "traditionellen Muster" weichen "moderne Pflegebedürftige" und Pflegebedürftige mit einem prekären oder labilen Unterstützungsnetzwerk in drei Punkten ganz deutlich ab: (1) Hilfen durch Partner und Kinder haben in dieser Gruppe immer, d.h. in allen Altersgruppen, einen sehr viel geringeren Anteil als bei den "vormodernen Pflegebedürftigen" mit stabilem Netzwerk. (2) "Moderne Pflegebedürftige" und Pflegebedürftige mit wenig stabilem Netzwerk sind in allen Altersgruppen immer in sehr viel stärkerem Maße auf beruflich geleistete Hilfen angewiesen und mit zunehmendem Alter steigt der Anteil der professionell erbrachten Hilfen. (3) In den jüngeren Altersgruppen sind bei den "modernen Pflegebedürftigen" in erstaunlich hohem Maße Mitglieder des informellen Netzes in die pflegerische Versorgung involviert, die nicht zu den Angehörigen gehören: Freunde, Bekannte oder Nachbarn. "Modernen Pflegebedürftigen" gelingt es offenbar, informelle Hilferessourcen zu aktivieren, die nicht auf verwandtschaftlichen Verpflichtungen beruhen. Sie sind auch in dieser Hinsicht "modern", da sie - zumindest als "junge Alte" - auf ein soziales Kapital zurückgreifen können, das Entscheidungen, Initiativen und Bemühungen voraussetzt. Mit zunehmendem Alter verlieren aber auch bei den "modernen Pflegebedürftigen" die über Freundschafts-, Bekanntschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen mobilisierbaren Hilferessourcen an Bedeutung.

Die Einführung der Pflegeversicherung hat eine paradoxe Situation entstehen lassen: Unerwartet viele Pflegebedürftige - rund 80 Prozent, also die überwiegende Mehrheit - hat sich nicht für Sachleistungen entschieden, sondern für Geldleistungen, obwohl der Leistungsumfang der Geldleistungen nur den halben Satz der Sachleistungen ausmacht. Die Untersuchung kann einige Antworten auf die Frage geben, warum sich diese sonderbare Verteilung ergeben hat: Die Ergebnisse zeigen, daß die Wahrscheinlichkeiten für die Wahl von Sach- oder Geldleistungen überaus stark mit der Stabilität von Unterstützungsnetzwerken korrelieren. Wer sich in einem stabilen Netzwerk verankert sieht, wählt fast nie Sachleistungen. Bei einem prekären oder labilen Netzwerk ist die Tendenz zur Wahl von Geldleistungen dagegen außerordentlich gering und Sachleistungen, allenfalls Kombileistungen, werden eindeutig bevorzugt. Da die derzeit ambulant versorgten Pflegebedürftigen überwiegend über stabile Unterstützungsnetzwerke verfügen (85 %) ist der hohe Anteil von Entscheidungen für Geldleistungen (80 %) nicht erstaunlich.

Ein erstaunlich großer Anteil der Helfer wird für die Hilfeleistung bezahlt. Von den Helfern aus dem informellen Unterstützungsnetzwerk - Ehegatten, Kinder, andere Verwandte, Freunde, Bekannte und Nachbarn - erhalten rund 50 Prozent eine Bezahlung. Das ist ein unerwartet hoher Anteil. Wir wissen nicht, in welchem Umfang vor Einführung der Pflegeversicherung diese Helfer eine Bezahlung erhalten haben. Aber die Vermutung ist doch sehr naheliegend, daß erst die Pflegeversicherung über die Möglichkeit, Geldleistungen zu wählen, die Pflegebedürftigen in die Lage versetzt hat, ihren Helfern eine Bezahlung zu leisten. Die interessante Frage, wie sich diese Möglichkeit auf die Stabilität von Hilfebeziehungen auswirkt, läßt sich nur durch eine Längsschnittstudie beantworten. Beachtlich ist auch, daß ungefähr 30 Prozent der Pflegepersonen keinerlei Zahlung erhalten. Dies kann mit traditionalen Wertemustern zusammenhängen, in denen die Monetarisierung von Pflegebeziehungen und Reziprozitätserwägungen als der eigenen Familienkultur fremde Impulse zurückgewiesen werden.

3. Zufriedenheit mit der Pflegeversicherung und Zukunftsperspektiven von Pflegebedürftigen

Die überwiegende Mehrheit der Pflegebedürftigen - bzw. ihrer Angehörigen, soweit sie im Interview die Auskünfte gegeben haben - ist mit der Pflegeversicherung zufrieden (90 %). Wichtige Hilfen werden nur von wenigen vermißt (14 %) und auch die Eingruppierung in eine Pflegestufe wird überwiegend akzeptiert (73 %). Unzufrieden sind am ehesten "moderne Pflegebedürftige" mit instabilem Unterstützungsnetzwerk und die Angehörigen von dementen Pflegebedürftigen.

Rund drei Viertel der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen gehen davon aus, daß die pflegerische Versorgung auch dann sichergestellt ist, wenn der Hilfebedarf zunimmt. Die Sicherheit der pflegerischen Versorgung wird dann besonders häufig skeptisch beurteilt, wenn ein stabiles Unterstützungsnetzwerk fehlt. Insgesamt wird von rund einem Viertel der Pflegebedürftigen eine Heimunterbringung in Betracht gezogen. Dieser Anteil ist bei den Pflegebedürftigen mit einem labilen oder prekären Netzwerk mit rund 40 Prozent deutlich höher. 

4. Gibt die Pflegeversicherung einen Anstoß zur Veränderung von Pflegearrangements?

Ein solcher - von Fachleuten befürworteter Wandel - könnte darin bestehen, daß der Strukturtyp des "Pflegemix" größere Bedeutung gewinnt. Damit ist ein Pflegearrangement gemeint, an dem berufliche und nicht-berufliche Helfer je nach Versorgungsbedarf und Netzwerkkonstellation mehr oder weniger stark beteiligt sind. Dieser Strukturtyp "Pflegemix" bildet noch immer eher eine Ausnahme: nur 11 Prozent der Pflegearrangements entsprechen dem Typ "Pflegemix". 85 Prozent der Pflegebedürftigen bevorzugen dagegen ein "traditionelles Arrangement", bei dem berufliche Hilfen entweder überhaupt keine Rolle spielen (51 %) oder nur einen sehr geringen Anteil haben.

Ein Trend zum "Pflegemix" ist am ehesten bei "moderen Pflegebedürftigen" mit labilem oder prekärem Netzwerk zu beobachten.
 

Die Daten der Studie weisen darauf hin, wie bedeutsam eine Analyse der jeweiligen, im wesentlichen von privater Solidarität und informeller Hilfe geprägten Pflegearrangements ist. In informell-formell gemischten Unterstützungsnetzwerken wird in der pflegewissenschaftlichen und gerontologischen Diskussion generell eine wichtige sowohl kulturentwickelnde als auch qualitätssichernde Perspektive für die häusliche Pflege gesehen. Trotz zahlreicher Interventionen, die das Pflegeversicherungsgesetz vorsieht, - Begutachtung und Beratung durch den MDK, Pflegeberatung im Rahmen der sogenannten Pflegekontrollbesuche, Beratung durch die Pflegekassen und Pflegekurse - konnten bislang keine Wirkungen in diese Richtung nachgewiesen werden. In einer Längsschnittstudie könnte untersucht werden, ob und wie Pflegearrangement sich unter den Bedingungen der Pflegeversicherung ändern und ob die Anstöße zu einer Kombination von informeller und formeller Hilfe wirksam sind. In der gelingenden "mixed economy of care" liegt, so eine der Prämissen in der Diskussion um den Wohlfahrtsstaat, die Zukunft der Sicherung der Pflege.
 

Die Freiburger Pflegestudie weist in produktiver Weise auf die Bedeutung lebensweltlich geprägter Pflegearrangements hin. Dies ist für die professionell Pflegenden und für die Pflegedienste ebenso von Bedeutung wie für die Pflegekassen und Sozialleistungsträger.

PD Dr. Baldo Blinkert / Prof. Dr. Thomas Klie

3.Dezember 1997

Zum Seitenanfang Seite drucken