Der folgende Aufsatz stellt die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung über „Aktionsräume von Kindern im ländlichen Raum“ dar. Er ist erschienen in der Zeitschrift „Spiel(t)räume“, Heft 3, 1998.
Wie sind die Spielmöglichkeiten von Kindern im Umfeld ihrer Wohnung? Welche Konsequenzen für die Lebensqualität und die Entwicklungschancen von Kindern hat es, wenn das Wohnumfeld nicht mehr als Spiel- und Aufenthaltsraum genutzt werden kann? Dies war die zentrale Fragestellung einer breit angelegten Studie, die vom Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS) 1993 in der Großstadt Freiburg durchgeführt wurde(1). In dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, welch großen Einfluß das Vorhandensein außerhäuslicher Spielräume auf den Kinderalltag hat und wie wichtig es ist, durch eine kinderfreundliche Stadtplanung und Verkehrspolitik solche Räume bereitzustellen oder zu sichern.
Die Studie erbrachte umfangreiche Erkenntnisse, die sich sicher auch auf andere Städte übertragen lassen. Aussagen über das Wohnumfeld von Kindern in kleineren Gemeinden lassen sich jedoch damit nicht machen. Allgemein angenommen wird ja, dass in ländlichen Gebieten die Bedingungen für Kinder noch sehr viel besser sind als in der Stadt und sie dort viel Raum und Natur vorfinden, um ihrem Spieltrieb nachzugehen. Möglicherweise ist dies aber auch ein Vorurteil und die Verhältnisse auf dem Land haben sich den städtischen schon längst angeglichen, mit ganz ähnlichen Problemen und Einschränkungen.
Durch einen entsprechenden Auftrag des Ministeriums für Umwelt und Forsten des Bundeslandes Rheinland-Pfalz hatten wir Gelegenheit, dieser Frage in einer Folgestudie nachzugehen(2). Hierzu wurde in zwei ländlichen Gemeinden in Rheinland-Pfalz eine teilweise Replikation der Freiburger Untersuchung durchgeführt, so dass Vergleiche zwischen Stadt und Land möglich waren. Auf dem Land wurde jedoch ein besonderes Augenmerk auf die Rolle naturnaher Spielräume gelegt, da zu erwarten war, dass vor allem von diesen für ländliche Gebiete typischen Ressourcen positive Effekte auf die Situation der Kinder ausgehen.
Um nun die Situation der Kinder in den beiden Landgemeinden konkret zu erfassen, wurden alle Eltern der Kinder von 5 bis 12 Jahren zu den Lebensbedingungen ihrer Kinder schriftlich befragt. Rund die Hälfte der Eltern (177) hat die Fragen letztlich beantwortet und konnte in die Auswertung einbezogen werden. Zusätzlich wurde für eine Auswahl von Wohngebieten von Beobachtern eine Inventarisierung des Wohnumfeldes vorgenommen. Dabei wurde auf Bebauungsformen, vorhandene Freiflächen, Naturflächen, Spielplätze und auf die Verkehrsbelastung geachtet. Um auch die Sichtweise der Kinder zu berücksichtigen, wurde in ausgewählten Wohngebieten eine Begehung mit dort wohnenden Kindern durchgeführt, bei der wir uns die Spielorte der Kinder zeigen ließen.
Die räumlichen Bedingungen für Kinder in ihrem Wohnumfeld haben wir zusammenfassend mit dem Begriff „Aktionsraumqualität“ beschrieben. Eine gute Aktionsraumqualität liegt für uns vor, wenn das Wohnumfeld folgenden Ansprüchen genügt: Es muß zugänglich, gefahrlos und gestaltbar sein und es muß für die Kinder die Chance bestehen, andere Kinder anzutreffen. „Gemessen“ haben wir die Aktionsraumqualität der Kinder hauptsächlich mit dem Elternfragebogen, der Fragenkomplexe zu den folgenden Themen enthielt: Können die Kinder ohne Aufsicht und ohne Bedenken in unmittelbarer Nähe der Wohnung spielen, können Spielkameraden ohne Begleitung erreicht werden und welche Spielorte werden regelmäßig ohne Aufsicht aufgesucht.
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Vorstellung von der idyllischen Kindheit auf dem Land, die in vielen Köpfen existiert, zu mindestens in Frage gestellt werden muß. Wenn man die Situation der Kinder auf dem Land mit denen in der Stadt vergleicht, wir deutlich, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land erstaunlich gering sind.
Rund 50% der Kinder in Rheinland-Pfalz verfügen über eine gute bis sehr gute Aktionsraumqualität. Das ist nur wenig mehr als in Freiburg, wo der Anteil bei ca. 40% lag. Eine gute Aktionsraumqualität bedeutet für diese Kinder, dass sie eher ohne Aufsicht draußen spielen können, viele verschiedene Spielorte außerhalb des Hauses nutzen können und auch ihre Spielkameraden alleine erreichen können. Der Anteil der Kinder, der mit einer schlechten oder gar sehr schlechten Aktionsraumqualität zurechtkommen muß, lag in Rheinland-Pfalz und in Freiburg bei rund einem Viertel.
Welch dramatische Auswirkungen eine schlechte Aktionsraumqualität auf den Kinderalltag in den beiden Landgemeinden hat, zeigen die folgenden Zahlen:
- Bei schlechter Aktionsraumqualität spielen die Kinder im Durchschnitt nur ca. 30 Minuten am Tag ohne Aufsicht außerhalb der Wohnung. Verfügen sie aber über eine gute Aktionsraumqualität, können sie sich dreimal so lange alleine draußen aufhalten.
- Ist die Aktionsraumqualität schlecht, benötigen die Kinder ca. 50 Minuten am Tag Beaufsichtigung, wenn sie draußen spielen. Eltern, deren Kinder in einer guten Aktionsraumqualität wohnen, müssen nur rund 10 Minuten ihrer Zeit dafür aufwenden.
- 30% der Kinder mit schlechter Aktionsraumqualität besuchen eine organisierte Betreuung am Nachmittag, hingegen tun dies nur 5% der Kinder mit guten Wohnumfeldbedingungen.
In der Großstadt Freiburg waren die Verhältnisse ganz ähnliche. Auch hier bestand ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Aktionsraumqualität und dem Betreuungsaufwand. Die draußen verbrachte Zeit wich nur wenige Minuten von den Werten in Rheinland-Pfalz ab und auch der Anteil der Kinder in einer Nachmittagsbetreuung war nur geringfügig höher.
Schlechte Wohnumfeldbedingungen führen bei Kindern, die davon betroffen sind zu Benachteiligungen und machen für sie ein spontanes unbeaufsichtigtes Spielen fast unmöglich. Wenn sie sich draußen aufhalten wollen, so geht das fast nur unter Aufsicht von Erwachsenen. Für diese Kinder setzen sich mehr und mehr Trends durch, die für den modernen Kinderalltag als charakteristisch gelten und vielerorts bemängelt werden: „Verhäuslichung“, der Rückzug vom Spiel im Freien in die Wohnung und in das Kinderzimmer und „Organisierung von Kindheit“, der Ersatz von spontanem, unkontrolliertem Spiel durch Kurse, Betreuungsangebote, Kinderparties usw. Dies trifft vor allem die jüngeren Kinder im Alter von fünf bis etwa acht Jahren, die aufgrund geringerer „Risikokompetenz“ noch stärker auf günstige Bedingungen im näheren Wohnumfeld angewiesen sind.
Es ist zu befürchten, dass für Kinder dieses Alters, die sich in einer wichtigen Phase der geistigen, motorischen und sozialen Entwicklung befinden, die Einschränkung ihrer Möglichkeiten äußerst negative Auswirkungen hat und auch ihre Entwicklungschancen nachhaltig beeinträchtigt werden.
Die erstaunlich geringen Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Verhältnissen, die wir bezüglich der Aktionsraumqualität beobachtet haben, lassen sich durch zwei Faktoren erklären. Zum einen ist eine Hauptursache für schlechte Aktionsraumqualität in der Belastung eines Wohngebietes mit Verkehr zu sehen. Im ländlichen Raum ist jedoch seit einiger Zeit eine überproportionale Zunahme der Verkehrsbelastung zu verzeichnen. Dies ist u.a. auf einen zunehmenden Trend zur Suburbanisierung zurückzuführen, also auf den Umzug einer großen Zahl von ehemaligen Stadtbewohnern in das Umland der Städte. Damit verbunden ist auch ein stark gestiegenes Verkehrsaufkommen durch Pendler, das zu einer Zerstörung vieler Spielräume geführt hat.
Zum anderen ist eine gute Aktionsraumqualität vor allem durch das Vorhandensein von bespielbaren Flächen im Wohnumfeld bedingt. Die Stadt Freiburg ist hiermit im Vergleich zu anderen Großstädten relativ gut ausgestattet. Es ist zu erwarten, daß die Situation in einer eher industriell geprägten Großstadt sehr viel schlechter ist und dann auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land stärker hervortreten würden. Wenn Kinder auf dem Land über gute außerhäusliche Spielmöglichkeiten verfügen, so liegt das zum einen daran, daß die Belastung mit Verkehr in ihrem Wohnumfeld gering ist. Der zweite wichtige Grund für eine gute Aktionsraumqualität ist, daß naturnahe Flächen in der Nähe genutzt werden können. Das können Brachflächen, Wälder, Wiesen, Bachufer, aber auch Baulücken im Ortsinneren sein, die erreichbar und zugänglich sind. Intensiv genutzte Landwirtschaftsflächen, wie sie in dieser typischen Weinbauregion häufig anzutreffen sind, sind jedoch kaum zum Spielen geeignet.
Rund zwei Drittel der Kinder in den beiden Gemeinden haben naturnahe Flächen in erreichbarer Nähe und gut die Hälfte der Kinder nutzt diese auch zum Spielen. In Freiburg haben wir die Existenz solcher Spielorte nicht explizit erhoben, es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß in einer Großstadt nur ein sehr kleiner Teil der Kinder auf solche Ressourcen zurückgreifen kann.
Wie auch in der Stadt hat das Vorhandensein eines konventionellen Spielplatzes in der Nähe so gut wie keinen Einfluß auf die Aktionsraumqualität von Landkindern. Die Lebensbedingungen von Kindern mit Spielplatz in der Nähe unterscheiden sich kaum von denen ohne Spielplatz.
Was können Gemeinden tun, um die Situation ihrer Kinder zu verbessern?
Wenn man Empfehlungen geben möchte, wie die Gemeinden im ländlichen Raum dazu beitragen können die Situation ihrer Kinder im Wohnumfeld zu verbessern, muß man der Tatsache Rechnung tragen, daß die Kommunen Deutschlands mit chronischen Finanznöten zu kämpfen haben. Umfangreiche bauliche Maßnahmen, wie der Bau von Ortsumgehungsstraßen oder großer Sport- und Spielanlagen, sind vielerorts aus diesem Grunde kaum realisierbar.
Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, auch mit geringem finanziellen Aufwand spürbare Verbesserungen der Spielmöglichkeiten für Kinder herbeizuführen. Zunächst einmal sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, die schon begonnene Politik der Verkehrsberuhigung konsequent fortzuführen. Am besten ist natürlich die Schaffung verkehrsfreier Bereiche. Wo dies nicht möglich ist, sind Tempo-30-Zonen, Spielstraßen, Sperrung von Straßen für Durchgangsverkehr Maßnahmen, die einen sehr positiven Beitrag zur Verbesserung der Situation von Kindern leisten. Auch die kinderfreundliche Gestaltung der Hauseingangsbereiche sollte beachtet werden, damit auch hier bespielbare und sichere Zonen zur Verfügung stehen. Schon einfache Maßnahmen, wie Parkverbote oder die Verbreiterung des Gehwegs können hier viel bewirken.
Ein besonderes Augenmerk sollten Gemeinden jedoch auf den Erhalt und die Bereitstellung von naturnahen Spielräumen legen. Diese auf dem Land zum Glück noch häufig anzutreffenden Ressourcen sollten konsequent geschützt werden und, wo gefahrlos möglich, den Kindern als Spielorte zur Verfügung gestellt werden. Das ist nicht nur sehr viel kostengünstiger, als die Errichtung von weiteren aufwendig möblierten Spielplätzen, sondern entspricht unserer Erfahrung nach auch sehr viel eher den Bedürfnissen der Kinder nach freiem und kreativem Spiel.
Dass diese Forderung sehr sinnvoll ist, zeigen die mittlerweile gesammelten Erfahrungen in Freiburg. Die Stadtverwaltung hat auf unseren Vorschlag hin damit begonnen, herkömmliche Spielplätze nach und nach in einen naturnahen Zustand „zurückzubauen“. Die üblichen Geräte – Wackeltiere, Rutsche, Schaukel – wurden abgeräumt. Dann wurde zusammen mit Eltern und Kindern das Gelände umgestaltet: Hügel aus Bauaushub, Vertiefungen in denen sich Regenwasser sammeln kann und eine robuste Vegetation wurden angelegt und es gibt Materialien wie Wasser, Schnittgut und Sand, mit denen man etwas gestalten kann. Mittlerweile sind 16 Spielplätze auf diese Weise rückgebaut worden, mit zum Teil enormem Erfolg und insgesamt deutlich geringeren Kosten, als bei konventionellen Spielplätzen. Die große Zahl von Kindern, die auf diesen Plätzen spielen und toben, hat sogar dazu geführt, daß sich Nachbarn in einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen haben um die alten geordneten Verhältnisse wieder herzustellen. Diese Erfahrungen zeigen, wie ungemein attraktiv solche Spielorte für Kinder sind und auch für ländliche Gemeinden ist es sicherlich sinnvoll, vorhandene Ressourcen in Form von naturnahen Flächen in ähnlicher Weise ihren Kindern als Aktionsräume zu sichern.
Zum Autor
Jürgen Spiegel, Soziologe M.A., Jahrgang 1964. Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft e.V. (FIFAS).
Anmerkungen
Im Rahmen dieser Untersuchung wurden Informationen über die Spielmöglichkeiten von über 4.000 Kindern erhoben. Für 430 Kinder wurden Tagebuchaufzeichnungen über drei aufeinanderfolgende Werktage ausgewertet. Das Umfeld der Wohnung dieser Kinder wurde mit Beobachtungsmethoden inventarisiert. Mit den Eltern wurde ein ausführliches Interview durchgeführt. Die Sichtweise der Kinder wurde durch Begehungen in 12 Wohnquartieren mit den dort wohnenden Kindern erfaßt. Auf 58 öffentlichen Spielplätzen (50% der Spielplatzfläche) wurden qualitative und quantitative Beobachtungen durchgeführt.
Vgl. auch: B. Blinkert: Aktions- und Erlebnisräume für Kinder, Spiel(t)räume H. 1/1997, S. 6-10
1. Baldo Blinkert: Aktionsräume von Kindern in der Stadt, Pfaffenweiler 1993: Centaurus Verlag.
2. Baldo Blinkert: Aktionsräume von Kindern auf dem Land, Pfaffenweiler 1997: Centaurus Verlag.