Baldo Blinkert - Zerstörte Stadt - zerstörte Kindheit?"

Vortrag auf dem Vierten Deutschen Jugendhilfetag in Leipzig

1.

Als ich in dem Alter der Kinder war, über die ich jetzt eine umfangreiche Forschung durchgeführt habe - vor etwas mehr als 40 Jahren - , gab es so manches nicht, was heute selbstverständlich ist: es gab keine Spielplätze, oder nur sehr wenige; es gab keine Superkinderparties von McDonald; Kinderkommissionen und Kinderbeauftragte waren unbekannt; es gab keinen Abenteuerspielplatz und natürlich konnte sich niemand vorstellen, seine Kinder in eine Spieltherapie oder zu einem Erlebnispädagogen zu bringen 

Alles das gab es nicht, aber es gab etwas anderes, sehr wertvolles: nämlich Freiräume, wo wir ohne Aufsicht und Betreuung mit anderen Kindern spielen konnten - und mußten. Wir brauchten keine Abenteuerspielplätze, weil wir in unserem unmittelbaren Wohnumfeld genügend Abenteuer erleben konnten - und die Vorstellung, daß ein Kind zum Spielen betreut oder gar animiert werden müßte, wäre einigermaßen absurd gewesen. 

Erst in den 60er-Jahren sind diese Freiräume allmählich und dann immer schneller verschwunden: Die Baulücken wurden zugebaut - die Städte verdichtet. Der Verkehr nahm zu. Der Nahbereich um die Wohnungen wurde als Mobilitätshindernis erlebt und autogerecht umgestaltet. Immer mehr Wohngebiete wurden aus der Stadt nach außen verlagert - in die tristen und langweiligen Schlafstädte, wo nichts los ist - wo Kinder nichts interessantes beobachten können und wo man ihnen noch nicht einmal erlaubt, das gepflegte Abstandsgrün zwischen den Hochhäusern zu betreten oder in den durch Tuja-Hecken geschützten Vorgärten zu spielen. 

Im Verlauf dieser Entwicklung gingen den Kindern in der Stadt immer mehr Aktionsräume verloren. Aktionsräume sind Territorien, die für Kinder zugänglich sind - die sich erreichen lassen und für die es keine Verbote gibt, die - gemessen an der Risikokompetenz von Kindern - gefahrlos sind, die für Kinder im Sinne ihrer Interessen und Möglichkeit gestaltbar sind - wo man sich nicht langweilt und wo es Interaktionschancen mit anderen Kindern gibt. 

Diese vier Merkmale - Zugänglichkeit, Gefahrlosigkeit, Gestaltbarkeit und Interaktionschancen - bilden einen Aktionsraum. Im Verlauf der Stadtentwicklung sind Aktionsräume in diesem Sinne in zunehmendem Maße verlorengegangen. 

Wie dramatisch diese Veränderungen sind, zeigt allein schon die Entwicklung der "Auto-" und "Kinderdichte" (Abb. 1) Waren Mitte der 50er-Jahre die Kinder pro Hektor Stadtfläche noch sehr viel stärker vertreten als die Kraftfahrzeuge, so hat sich das innerhalb von nur 30 Jahren grundlegend geändert. 


Abbildung 1

Kinder in Großstädten können also immer weniger über Aktionsräume verfügen. Sie haben immer weniger die Möglichkeit, sich draußen spontan und unbeaufsichtigt aufzuhalten. Für immer mehr Kinder ist der Nahraum um die Wohnung entweder gefährlich oder langweilig und nicht selten beides. Auf eigene Faust können sie nichts unternehmen, es gibt nichts zu entdecken, sie können nichts mehr herstellen oder verändern.

Um das zu kompensieren muß ein riesiger Aufwand betrieben werden: Spieltherapien, Erlebnispädagogik, Spielplätze, betreute Spielgruppen. Und die Jugendämter bieten auffällig gewordenen Kindern nicht nur Erlebnisse an, sondern "erlebnispädagogische Maßnahmen" werden verordnet - das Erlebnis wird gewissermaßen vollstreckt. Auch die Industrie hat die Defizite moderner Kinder entdeckt und die damit verbundenen Profitchancen. Die jedes Jahr erneut auf den Markt geworfene Flut von Spielwaren und Spielen, findet stets ihre Abnehmer und läßt bei Eltern und Kindern doch nur Frustationen entstehen. 

Nicht das "Ende von Kindheit" ist in Sicht - wie Neil Postman(1) etwas mißverständlich meint, sondern ein neuer Typ von Kindheit, den Elisabeth Beck-Gernsheim zutreffend als "inszenierte Kindheit" bezeichnet hat(2).. Kindheit in dieser betreuten, therapierten, organisierten und vermarkteten Form ist keineswegs am Ende, sondern kommt erst so richtig in Schwung. 

2.

In der Kindheitsforschung der Vergangenheit stand die Frage im Vordergrund, wie sich die sozialen Bedingungen von Kindern verändert haben. Das ist eine wichtige Frage und es gab auch eine Fülle von Forschungen dazu mit wertvollen Einsichten. Aber diese Perspektive ist auch sehr einseitig. Kinder brauchen für eine hohe Lebensqualität und für eine positive Entwicklung nicht nur ein intaktes soziales Milieu mit optimalen Interaktions- und Kommunikationsbedingungen. Mindestens genauso wichtig sind Freiräume, die sich zum spontanen und unbeaufsichtigten Spielen mit Gleichaltrigen eignen. Um die Situation von Kindern zu verstehen, dürfen wir also nicht nur nach den veränderten Sozialerfahrungen fragen. Wir müssen auch wissen, wie sich ihre Raumerfahrungen verändert haben. Wie wir fragen, hat nicht nur Konsequenzen für unsere Einsichten sondern ist auch mit praktischen Folgen verbunden. Wenn wir uns nur für die Veränderung von Sozialerfahrungen interessieren, werden wir Kinderpolitik auch vorwiegend den Sozialexperten überlassen: Psychologen, Kinder- und Familientherapeuten, pädagogischen Fachkräften und entsprechenden Einrichtungen. Wenn wir uns auch um die Veränderung von Raumerfahrungen kümmern, besteht vielleicht eine Chance, daß sich auch Raumexperten mit der Situation von Kindern befassen: Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner. 

Um Veränderungen auf dem Gebiet der Raumerfahrung zu beschreiben, erscheinen mir vier Trends besonders wichtig: 

Erstens: Wir können beobachten, daß Außenräume für immer mehr Kinder an Bedeutung verlieren und daß Binnenräume stattdessen immer wichtigere Aufenthaltsorte werden. Man könnte diesen Trend als "zunehmende Verhäuslichung von Kindheit" beschreiben.(3)

Eine zweite Veränderung betrifft die Offenheit bzw. die Gestaltbarkeit oder Veränderbarkeit von Räumen: Wir können beobachten, daß offene und gestaltbare Räume immer weniger zur Verfügung stehen und daß organisierte und kontrollierte Räume für Kinder immer wichtiger werden. Diesen Trend könnte man als "Zunahme der organisierten Kindheit" bezeichnen.(4)

Ein dritter Trend besteht darin, daß reale Räume für viele Kinder immer mehr an Bedeutung verlieren und daß der Kinderalltag sich immer mehr in fiktiven oder simulierten Räume abspielt.(5) Damit meine ich nicht nur die Zeit, die Kinder vor dem Fernseher verbringen. Um Fiktionen und Simulationen geht es natürlich auch in den Computerspielen und die Redeweise von einem fiktiven oder simulierten Raum ist hier sehr viel zutreffender als beim Fernsehen. Zu diesem Trend gehört aber auch das offensichtlich gestiegene Interesse an Simulationsspielen wie z.B. die Spieleserie "Schwarzes Auge" oder Simulationsspiele im internet, die in zunehmendem Maße auch Kindern zugänglich werden. 

Ein vierter Trend schließlich läßt sich als zunehmende Bedeutung des Typs der "verinselten Kindheit" beschreiben: Kinder erleben ihre Umwelt immer mehr als weit verstreute und durch große Entfernungen voneinander getrennte und unverbundene Teilräume.(6)

Wir konnten nun in Freiburg eine umfangreiche Untersuchung zu dieser Frage nach der Bedeutung von Raumerfahrungen durchführen. In dieser Untersuchung wurden Informationen über die Spielmöglichkeiten von rund 4000 Kindern erhoben. Für eine Auswahl von 430 Kinder wurde eine aufwendige Zusatzuntersuchung durchgeführt: Tagebuchprotokolle für drei Tage, ein Wohnumfeldinventar und ein ausführliches Interview mit den Eltern. In zwölf Wohnquartieren wurden zusammen mit den dort lebenden Kindern Begehungen durchgeführt. Und zusätzlich wurden 50 Prozent der öffentlichen Spielplätze kartiert, photographiert, beschrieben und auch das Spielgeschehen auf diesen Plätzen wurde beobachtet.(7)

In dieser Forschung ging es um die Aktionsräume von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter: 

  • Was für Aktionsräume haben Kinder im Alter von 5 bis ungefähr 11 Jahre?
  • Was bedeutet es für die Lebensqualität von Kindern und für ihre Entwicklungschancen, wenn sich das Wohnumfeld nicht zum Spielen eignet?
  • Was können die Kommunen mit ihren Handlungsmöglichkeiten tun, um die Situation von Kindern nachhaltig zu verbessern? 

3.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, wie groß die Bedeutung der Aktionsraumqualität im Wohnumfeld für den Kinderalltag und für die Lebensqualität von Kindern ist. 

Mit unseren Tagebuchdaten konnten wir feststellen, wie und wo Kinder im Durchschnitt ihren Alltag verleben. Den größten Teil ihrer wachen Zeit verbringen Kinder in Organisationen - in der Schule, in Vorschuleinrichtungen, Betreuungen und Kursen. Nicht wenig Zeit wird auch für Lernen und für die Nutzung von Medien verwendet. Und am Ende bleibt ein kleiner Rest von ungefähr fünf Prozent des wachen Kinderalltags übrig. Bei diesem Rest handelt es sich um "Zeit, die für freies, spontanes und unkontrolliertes Spielen mit Gleichaltrigen außerhalb der Wohnung" verbracht wird. Das ist ein Ergebnis, das zu denken geben sollte: Für eine Tätigkeit, die von den meisten Fachleuten als so wertvoll angesehen wird, daß sie kaum durch etwas anderes ersetzbar ist, wird gerade fünf Prozent der wachen Zeit verwendet (Abb. 2).


Abbildung 2

Nun kann man ein solches Ergebnis ja sehr unterschiedlich kommentieren. Man könnte z.B. sagen, das sei eben typisch für moderne Kinder. Diese Kinder wollen ja gar nicht mehr draußen spielen, sondern beschäftigen sich viel lieber mit Fernsehen oder wollen durch irgendwelche Angebote unterhalten werden. 

Unsere Untersuchung zeigt jedoch, daß eine solche Interpretation völlig falsch wäre: Kinder spielen sehr gerne draußen - aber eben nur, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Ihr Fernsehkonsum hält sich in vernünftigen Grenzen, wenn es für sie Alternativen dazu gibt und von einer "organisierten Kindheit" sind Kinder am ehesten dann betroffen, wenn sie im Umfeld ihrer Wohnung keine Freiräume haben. Diese Trends zur "Verhäuslichung", zur "organisierten Kindheit" oder zur "Medienkindheit" sind also keine "historischen Konstanten", denen alle modernen Kinder unterworfen sind. Ob und in welcher Intensität diese Trends sich manifestieren, hängt ganz entscheidend von der Art des Wohnumfeldes ab - davon, wie gut oder wie schlecht die Aktionsraumqualität im Nahbereich der Wohnung ist: 

Kinder neigen vor allem dann zur "Verhäuslichung", wenn die Aktionsraumqualität im Umfeld ihrer Wohnung schlecht ist - wenn der Nahbereich gefährlich ist, wenn Spielkameraden nicht aus eigener Kraft erreichbar sind, wenn es nichts zu gestalten und verändern gibt. (Abb. 3).


Abbildung 3

Unter diesen Bedingungen spielen Kinder im Durchschnitt nicht mehr als 20 Minuten draußen ohne Aufsicht durch die Eltern. Das Ergebnis zeigt aber auch, daß "moderne Kinder" durchaus ein ganz beachtliches Interesse am freien und unbeaufsichtigten Spielen außerhalb der Wohnung haben - verständlicherweise aber nur dann, wenn ihnen das auch möglich ist. Kinder mit einem günstigen Wohnumfeld spielen mehr als viermal solange draußen wie Kinder, die in einem ungünstigen Umfeld aufwachsen. 

Auch "organisierte Kindheit" - als Bedarf nach einer organisierten Nachmittagsbetreuung gemessen - ist keine "historische Konstante", sondern hängt von den Lebensbedingungen der Kinder ab. Je schlechter die Aktionsraumqualität im Umfeld von Wohnungen ist, desto größer ist auch der Bedarf nach einer organisierten Nachmittagsbetreuung.(Abb. 4) 


Abbildung 4

Dieser Bedarf hängt natürlich nicht allein von der Beschaffenheit des Wohnumfeldes ab. Der Betreuungsbedarf für Kinder von Alleinerziehenden ist spürbar größer als der Bedarf in Zweielternfamilien. Wichtig ist aber, daß die "organisierte Kindheit" nicht nur bei den Alleinerziehenden mit schlechter werdender Aktionsraumqualität zunimmt, sondern in den vollständigen Familien genauso. 

Auch der Medienkonsum von Kindern - also die Tendenz zur "Medienkindheit" - wird überaus stark von der Aktionsraumqualität im Umfeld der Wohnung beeinflußt - und zwar besonders bei Kindern aus Familien mit einfachem Bildungsmilieu. (Abb. 5) 

Ist das Wohnumfeld dieser Kinder gefährlich oder erlebnisarm, so sitzen sie zur besten Spielzeit sehr viel länger vor dem Fernseher als unter günstigen Bedingungen. Zur besten Spielzeit sind die Einschaltquoten bei schlechter Aktionsraumqualität bis zu sechsmal höher als bei einem kinderfreundlichen Wohnumfeld. 


Abbildung 5

Lassen Sie mich eine erste Schlußfolgerung ziehen: Der Durchschnittswert, daß nur noch fünf Prozent des wachen Kinderalltags für unbeaufsichtigtes Spielen mit Gleichaltrigen außerhalb der Wohnung verbracht wird, hat keine wirkliche Aussagekraft. Wir müssen die Lebensbedingungen von Kindern damit in Verbindung bringen und besonders wichtig ist es, wie gut oder wie schlecht die Aktionsraumqualität im Umfeld der Wohnung ist. 

Und das ist etwas, was sich verändern läßt - nicht durch Spieltherapie oder Erlebnispädagogik, sondern durch eine vernünftige und an den Interessen der Kinder ansetzende Stadtplanung und Verkehrspolitik. Das ist auch die Empfehlung, die wir der Stadt Freiburg und auch anderen Städten gegeben haben. Die Empfehlung läßt sich in einer einzigen Maxime zusammenfassen: Statt noch mehr Therapien und noch mehr Einrichtungen sollten Städte ihre politischen Möglichkeiten nutzen und im Umfeld von Wohnungen für Kinder geeignete Aktionsräume schaffen. 

In unserer Untersuchung konnten wir zeigen, wie effektiv eine solche Politik sein könnte. Wir haben untersucht, welche relative Bedeutung verschiedene Faktoren für den Kinderalltag haben: Neben der Aktionsraumqualität auch das Alter und das Geschlecht von Kindern, und Merkmale, mit denen sich das Sozialmilieu der Familien beschreiben läßt: Umfang der Erwerbstätigkeit der Eltern, ob ein Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwächst und das Bildungsmilieu der Eltern. Um vorherzusagen, wie Kinder ihren Alltag verbringen hat das bei weitem größte Gewicht die Aktionsraumqualität. Erst mit sehr großem Abstand folgen dann die anderen Bedingungen. Dieses Ergebnis ist sehr wichtig und eine große Herausforderung an die Kommunalpolitik, denn es zeigt ja, daß wirklich etwas erreicht werden kann, wenn nur der Wille dazu besteht. Geschlecht, Alter und Familienmilieu sind kommunalpolitisch nicht veränderbar - wohl aber die Bedingungen im Umfeld von Wohnungen und es sind eben diese Bedingungen, die den bei weitem größten Einfluß auf den Kinderalltag haben. Anstatt den Werteverfall der Eltern oder die Auflösung der Familie zu beklagen, wäre es also sehr viel effektiver, wenn man in die Hände spucken würde, um eine entschieden kinderfreundliche Politik der Stadtentwicklung zu betreiben. 

Eine solche Politik wäre wichtig, weil sie entscheidend dazu beitragen könnte, die Lebensqualität von Kindern zu verbessern. Selbst in einer Stadt wie Freiburg mit insgesamt eher günstigen Bedingungen sind rund 25 Prozent der Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren von einer schlechten Aktionsraumqualität betroffen. 

Eine solche Politik wäre aber auch wichtig, weil sie die Entwicklungschancen von Kindern in einem positiven Sinne beeinflussen könnte. Aktionsräume - also zugängliche, gefahrlose und gestaltbare Territorien, wo es Interaktionschancen mit anderen Kindern gibt - sind aus verschiedenen Gründen für eine positive Entwicklung wichtig: 

Wenn Kinder im Vorschul- und Grundschulalter keine Möglichkeit zum Erkunden ihrer näheren Umgebung haben, ist zu befürchten, daß die für diese Altersphase typische Verlagerung von Sicherheits- zu Autonomiebedürfnissen zumindest behindert und verzögert wird. Es kommt vermutlich zu einer Art Bedürfnisfixierung: eine unzureichende Lösung von Sicherheitsbedürfnissen und ein geringes Interesse am Ausprobieren, Entdecken und Problemlösen. Wenn wir kreative und autonome Kinder wünschen, dann müssen wir ihnen eine offene und gestaltbare Umwelt anbieten, eine Umwelt in der sie etwas ausprobieren und verändern können. 

Von allen Fachleuten wird betont, wie wichtig für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter die Möglichkeit zum Herstellen ist - Herstellen von Dingen, aber auch soziales Herstellen, also Herstellen von Regeln und Beziehungen. Kinder, die diese Möglichkeit besitzen, können Selbstbewußtsein, Stolz auf die eigenen Fähigkeiten aber auch Einsicht in die Grenzen ihres Handelns gewinnen. Dazu sind anregende und offene Aktionsräume erforderlich. Das Fehlen von Aktionsräumen regt eher zum Konsumieren fertiger Dinge und Dienstleistungen an. Nun ist Konsumieren als solches sicher nicht etwas Schlechtes. Aber Herstellen und Konsumieren regen zu einem ganz unterschiedlichen Neugier- oder Erkenntnisverhalten an. Konsumenten trainieren und erwerben vor allem ein funktionales Wissen: Sie müssen wissen, was man mit Dingen und Beziehungen anfangen kann, welchen Gebrauchswert sie haben. Hersteller müssen das natürlich auch, aber sie entwickeln auch eine zusätzliche Neugier. Sie sind typischerweise an kausalem Wissen interessiert. Sie müssen wissen, wie Dinge oder Beziehungen entstehen, wie sie sich machen und verändern lassen. Was passiert nun mit Kindern, die nichts oder nur noch wenig herstellen, die nur noch fertige Dinge oder Beziehungen nachfragen und konsumieren? Vielleicht ist die Vermutung nicht ganz abwegig, daß diese Kinder den für einen Hersteller typischen Erkenntnisstil - die Frage nach Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten - gar nicht mehr erwerben. 

Herstellen hat aber nicht nur eine Bedeutung für das Neugierverhalten, für den Erkenntnisstil von Kindern. Herstellen ist natürlich auch eine lustvolle Tätigkeit. Jeder, der sich noch ein bißchen an seine Kindheit erinnert, wird wissen, daß der Vorgang des Herstellens fast immer interessanter war als der spätere Umgang mit dem fertiggestellten Produkt. Oft ist es so, daß Kinder stundenlang und intensiv mit dem Vorgang des Herstellens beschäftigt sind - z.B. wenn sie eine Baumhütte bauen, oder ein Zelt aus Decken - , daß sie dann am Ende aber kein großes Interesse mehr haben, damit auch noch zu spielen. Sie überlegen dann oft, was man noch herstellen könnte, oder sie zerstören ihr Produkt. Der Vorgang ist oft, vielleicht sogar meistens, interessanter und spannender als der Umgang. Diese Erfahrung können viele Kinder heute nicht mehr machen. Sie können nur noch mit Dingen umgehen, z.B. mit einem funkgesteuerten Elektroauto. Und wenn sie bei einem solchen Ding den Vorgang des Herstellens genießen wollen, müssen sie den Prozeß rückläufig machen: Sie müssen das Elektroauto zerstören. In einer Welt mit unfertigen Dingen werden Kinder ganz sicher zum Herstellen angeregt, wird also ihre konstruktive Phantasie gefördert. In einer Kinderwelt der fertigen Dinge dagegen wird vielleicht eher das Zerstören angeregt, werden eher destruktive Phantasien gefördert. Auch das könnte eine Konssequenz eines anregungsarmen und von Kindern nicht mehr gestaltbaren Wohnumfeldes sein. 

Auch eine weitere Vermutung bezieht sich auf die Kompetenz von Kindern, bzw. auf ein ganz bestimmtes Kompetenzdefizit. Es könnte sein, daß Kinder unter dauerhaft ungünstigen Aktionsraumbedingungen ein Defizit entwickeln, das dem Defizit der "Künstlichen Intelligenz" sehr ähnlich ist. Sie erwerben hochentwickelte formale Fähigkeiten, aber nur eine unterentwickelte Semantik. Sie können immer besser und differenzierter kommunizieren, aber sie wissen nicht, worüber - ihnen fehlen die Bedeutungen und Inhalte. Ein Symptom für dieses Defizit ist die Unfähigkeit zum Erzählen. Inhalte und Bedeutungen, also etwas Erzählenswertes, kann man nur erwerben, wenn man etwas erlebt. Viele Kinder leiden heute unter einem extremen Erlebnismangel. Welche Erlebnisse haben Kinder, worüber sollen sie etwas erzählen, welche Bedeutungen sollen sie erwerben, wenn sie sich den halben Nachmittag auf einem Spielplatz mit Rutschen, Wippen, Kriech- und Wackeltieren beschäftigt haben? Hier läßt sich in der Tat so etwas wie eine "Agonie des Realen" beobachten: An die Stelle von eigenen Erfahrungen treten immer mehr Erfahrungen aus zweiter Hand und Erfahrungen mit Simulationen.(8)

4.

Die Frage ist nun, was die Städte mit ihren kommunalpolitischen Mitteln tun können, um diese Entwicklungen zu verhindern. Zunächst erscheint es mir sinnvoll, zwei etwas allgemeinere Prinzipien zu beachten: 
    1. Kinderpolitik sollte nicht nur von Sozialexperten betrieben werden. Die Kommunen müssen Wege finden, auch Raumexperten sehr viel stärker an der Kinderpolitik zu beteiligen als das in der Vergangenheit geschehen ist. 
    "Sozialexperten" sind Erzieher, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen, Soziologen...In der kommunalen Verwaltung sind sie meistens dem Sozialdezernat zugeordnet, sie sind im Sozial- und Jugendamt tätig, in sozialen Einrichtungen und in den Schulen. "Raumexperten" sind Architekten, Stadtplaner, Verkehrsexperten - also Fachleute, die in Baudezernaten, in Tiefbau- und Planungsämtern tätig sind, oder in entsprechenden freien Berufen. 
    Eine nur von Sozialexperten betriebene Kinderpolitik kann leicht sehr einseitig werden und an den Bedürfnissen der Kinder vorbeigehenen - zumindest war das in der Vergangenheit so: Kinderpolitik im kommunalen Rahmen war und ist eigentlich noch immer weitgehend eine "Einrichtungspolitik". Es geht fast nur um Einrichtungen zur Betreuung, zur Beratung oder zur Behandlung von Kindern. Das alles ist vielleicht wichtig, aber eben nur ein Aspekt. Kinder haben ganz wichtige Bedürfnisse, die sich nicht durch noch so schöne Einrichtungen abdecken lassen - und dazu gehört natürlich das Bedürfnis nach Freiräumen. Um das zu berücksichtigen, müssen Sozialexperten sich mehr für die räumlichen Bedürnisse von Kindern einsetzen. 
    Aber das reicht nicht. Damit sich wirklich etwas ändert, müssen auch die Raumexperten an der Kinderpolitik beteiligt werden und in die Pflicht genommen werden und zwar in einer verbindlichen Weise. 

    2. Um diese Verbindlichkeit zu sichern, wäre es vielleicht nützlich, ein zweites Prinzip zu beachten: In die kommunale Kinderpolitik sollten Regelungen Eingang finden, die sich im Umweltschutz bewährt haben und immer größere Akzeptanz genießen. Es ist überhaupt nicht einsehbar, daß Kinder einen geringeren Schutz genießen sollen, wie Wollgräser, Wanderkröten und Beißschrecken. Regelungen aus dem Umweltschutz wie z.B. die Umweltverträglichkeitsprüfung oder der Biotopenschutz genießen immer mehr Akzeptanz und haben sich im großen und ganzen auch bewährt. 
    Was spricht dagegen, analoge Regelungen als zentrale Komponenten eines raumbezogenen Kinderschutzes zu übernehmen - als "Kinderverträglichkeitsprüfung" und als "Soziotopenschutz"? Sicher wird das zu Protesten herausfordern, weil damit ja auch neue Vorschriften und Regelungen in die Welt gesetzt werden. Aber wie sonst soll in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft etwas durchgesetzt werden? Der Vorteil solcher Regelungen wäre ganz sicher, daß es einigermaßen verbindliche und kalkulierbare Richtlinien gibt und vor allem wäre das eine Möglichkeit, die Raumexperten in einer verpflichtenden Weise in die kommunale Kinderpolitik einzubinden. 
    Eine "Kinderverträglichkeitsprüfung" gibt es schon in einigen Städten. Über einen "Soziotopenschutz" müßte noch intensiver nachgedacht werden. Als Soziotop könnte man ein Gebiet klassifizieren, wenn es für das Aufwachsen von Kindern besonders wertvoll und wichtig ist. Da solche Gebiete immer seltener werden, sollte man sie unter Schutz stellen. 

Was kann eine Stadt aber nun ganz konkret tun, um die Situation von Kindern zu verbessern? Auch zu dieser Frage liefert die Freiburger Kinderstudie einige Hinweise. Wir haben durch aufwendige Beobachtungen im Nahraum von Wohnungen - also in einem Umkreis von rund 150 Metern - eine Art Inventar erstellt: eine Liste von Merkmalen, die für die Aktionsraumqualität bedeutsam sind. Diese Merkmale haben wir mit den Einschätzungen der Eltern und mit dem Verhalten von Kindern in Verbindung gebracht. Das Ergebnis ist eine Liste von Umfeldmerkmalen, für die wir ziemlich genau angeben können, welchen Beitrag sie zu einer kinderfreundlichen Umwelt leisten. Eine Durchsicht dieser Liste ergibt bereits erste Antworten auf die Frage, was von Seiten der Stadtplanung und Verkehrspolitik für Kinder getan werden kann und welche Effekte dann zu erwarten sind. Dazu ein paar Stichworte: 
  1. Das Vorhandensein oder Fehlen von Spielplätzen hat zwar eine gewisse Bedeutung, aber der davon ausgehende Effekt auf die Spielchancen ist geringfügig. 
  2. Von überaus großer Bedeutung ist der unmittelbare Hauseingangsbereich und der Nahraum - ein Radius von bis zu 50 Metern um die Wohnung. Hier ist es wichtig, daß es eine Pufferzone zwischen Wohnung und Straße gibt, und daß im Wohnungsbereich Aufenthalts- und Spielmöglichkeiten bestehen. 
  3. Ebenso wichtig ist die Art und Weise der Verkehrsregelung - welches Tempo, wie stark die Belastung durch parkende Fahrzeuge ist, welche Rolle der Durchgangsverkehr spielt und das Verkehrsaufkommen. 
Wir haben alle relevanten Merkmale des Wohnumfeldes zu einem Test zusammengefaßt - dem "Freiburger Soziotopen-Test". Mit diesem Test läßt sich ermitteln, wie kinderfreundlich oder kinderfeindlich ein Wohnumfeld ist. Wenn bei der Planung neuer Stadtteile oder bei der Sanierung alter Wohngebiete der Gesichtspunkt der Kinderfreundlichkeit eine Rolle spielen soll, könnte ein solcher Test vermutlich ganz gute Dienste leisten. 

Besonders wichtig ist es, daß die Gefährdung von Kindern durch den Straßenverkehr deutlich verringert wird. Dazu ist es erforderlich, die in vielen Städten schon begonnene Politik der Verkehrsberuhigung konsequent fortzusetzen. Generell ist zu fordern, daß in den Wohnquartieren die Aufenthaltsfunktion des öffentlichen Raumes gegenüber der Verkehrsfunktion eindeutig den Vorrang gewinnt. In Großstädten wie Freiburg gibt es noch viele Möglichkeiten, autofreie Straßenplätze und Spielstraßen zu schaffen. Wo das nicht möglich ist, sollte zumindest Tempo 30 eingeführt werden, aber auch mit der nötigen Konsequenz: mit einer effektiven Kontrolle der Tempobeschränkung und mit einer Sperrung für den Durchgangsverkehr. Wichtig ist auch eine kinderfreundliche Gestaltung der Hauseingangsbereiche - die Schaffung von bespielbaren und sicheren Übergangszonen zwischen Haustür und Straße. Dafür gibt es interessante Vorschläge: Gehwegverbreiterung, Einbeziehung von Vorgärten, Schaffung kleiner Spiel- und Aufenthaltszonen im Umkreis des Hauseingangs. 

Der öffentliche Bereich im Wohnumfeld muß für Kinder wieder zugänglich und gefahrlos werden - aber das allein ist nicht ausreichend. Der öffentliche Raum muß für Kinder auch wieder attraktiv werden. Das ist in den verdichteten Wohnquartieren sicher nicht ganz einfach. Ich habe auch große Zweifel, ob sich dieses Ziel durch eine noch aufwendigere Möblierung von Spielplätzen erreichen läßt. Wenn man Kinder fragt, was sich an einem Spielort ändern sollte, so nennen sie zwar sehr oft irgendwelche Geräte: eine weitere Rutsche, eine Schaukel, noch ein Wackeltier... Aber das ist eigentlich nur ein Indikator dafür, daß schon eine Art Bedürfnisfixierung stattgefunden hat. Unsere Beobachtungen auf Spielplätzen haben auch gezeigt, daß diese Geräte für die meisten Kinder nicht wirklich attraktiv sind. Wenn man Kinder genauer fragt und ihnen auch Alternativen zeigt, dann kommt meistens eine ganz andere Wunschliste zustande. Ganz oben stehen dann Abenteuer-, Aktiv- und Naturspielplätze - Orte also, die nicht durch TÜV-geprüfte und kindgerechte Geräte möbliert sind, sondern Orte, die eher Freiheit und Abenteuer bedeuten. Wie aber soll man so etwas in den verdichteten Wohngebieten einrichten? 

Zu der Frage, wie sich interessante und gestaltbare Spielorte in erreichbarer Nähe einrichten lassen, haben wir der Stadt drei Prinzipien empfohlen: 

  1. Vernetzung von Spielorten - alle Spielorte für Kinder sollten durch begeh- und bespielbare Wege miteinander verbunden sein. 
  2. Vielfalt - es ist nicht ausreichend, wenn Kinder nur einen bestimmten Typ von Spielort regelmäßig nutzen können, z.B. nur den Garten, oder nur einen Spielplatz, oder nur den Hof. Diese Vielfalt kann durch eine größere Vernetzung geschaffen werden. In den verdichteten Wohngebieten ist Vielfalt aber nur möglich, wenn es zu einer weiteren konsequenten Verkehrsberuhigung kommt. Große Bedeutung hat auch die Möglichkeit, die Schulhöfe für Kinder am Nachmittag zu öffnen. 
  3. Das dritte Prinzip haben wir "funktionale Unbestimmtheit" genannt: Spielorte sollten Kindern die Möglichkeit zur Gestaltung bieten. Das setzt voraus, daß ihre Ausstattung nur sehr wenig auf bestimmte Zwecke festgelegt ist, daß es für Kinder möglich und notwendig ist, etwas zu verändern. Die herkömmlichen Spielplätze sind weit davon entfernt, dieses Prinzip zu verwirklichen. Die Möblierung dieser Plätze kostet sehr viel Geld und erreicht doch nicht den angestrebten Zweck. Wir haben der Stadt deshalb ein Experiment vorgeschlagen. Dieser Versuch ist nicht sehr teuer. Er besteht darin, daß in einigen ausgewählten Wohngebieten die Spielplätze "zurückgebaut" werden - in eine Art "Baulücke im fortgeschrittenen Stadium". Als erstes müßten alle Geräte abgeräumt werden. Dann sollte ein Bagger her und unter der Anleitung von vier oder fünf Kindern ein interessantes Gelände gestalten - mit verformbarer Erde, mit ein paar Hügeln aus Bauaushub, mit Vertiefungen, in denen sich Regenwasser sammeln und Matsch bilden kann. Die Vegetation sollte man sich selbst überlassen, vielleicht ein paar Brombeer- oder Himbeersträucher pflanzen - auf keinen Fall Zierpflanzen. Der Gemeinderat sollte auch einen Beschluß fassen, daß dieses Gelände nie zu einem wertvollen Biotop erklärt wird. Das Gartenamt könnte hin und wieder für bewegliche Gegenstände sorgen (Bretter, Balken, Steine). Nach Möglichkeit sollte es auch fließendes Wasser geben - es darf aber nicht wie Trinkwasser aussehen, weil sonst das Gesundheitsamt Bedenken anmelden würde - also eher trübes, schlammiges Wasser. Und wenn man für eine besondere Attraktion sorgen will, wäre vielleicht ein Autowrack etwas Gutes. Ein solcher Spielort sollte unbetreut sein. Wenn man Kindern nur die Möglichkeit dazu gibt, so können sie auch ganz gut ohne Animateure in einer kreativen Weise spielen. 
Bei diesem Vorschlag wird es natürlich alle Bedenkenträger nur so schütteln. Wer soll das verantworten? Wer soll die Haftung übernehmen? Das Haftungsrecht ist leider sehr oft ein "Kindheitsverhinderungsrecht". Kluge Juristen sollten sich deshalb der Angelegenheit annehmen und den Betreibern (Stadt, Gartenamt) aus der Patsche helfen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ein solcher Platz überhaupt nicht als "Spielplatz" deklariert wird, sondern als das, was er simulieren soll: nämlich als Baulücke. 

In Freiburg haben wir ein sehr kreatives Gartenamt, das nach unseren Vorschlägen einige konventionelle Spielplätze zurückgebaut hat: Alle Rutschen, Kriech- und Wackeltiere wurden beseitigt. Statt dessen gibt es Lehmhügel und Vertiefungen, Matsch, Wasser, Holz und Steine. Diese Spielplätze sind so attraktiv, daß sich mittlerweile eine Bürgerinitiative gebildet hat: in ihrer Mittagsruhe beeinträchtigte Anlieger, die wieder die alten Zustände herstellen wollen: einen Spielplatz, der so wenig attraktiv ist, daß möglichst wenig Kinder die Neigung verspüren, sich dort aufzuhalten. 

Alle unsere Vorschläge sind ohne einen gewissen Aufwand nicht realisierbar - dabei geht es aber weniger um die Finanzierbarkeit dieser Vorschläge. Es ist sogar so, daß Kommunen auf diese Weise durchaus Gelder einsparen könnten: Soziale Einrichtungen für Kinder sind teuer und wenn Einrichtungen der Betreuung und Behandlung durch Räume substituiert werden, hat das vielleicht sogar einen Spareffekt. Auch die zurückgebauten Spielplätze wären erheblich preisgünstiger als aufwendig möblierte Kinderreservate. Der zu erbringende Aufwand ist also weniger ein finanzieller, sondern liegt eher auf dem Gebiet der Konfliktbereitschaft. Wenn eine Kommune auf die von uns formulierten Vorschläge eingeht, werden nicht nur Anlieger protestieren, sondern sehr schnell wird auch das Argument kommen, daß es doch schließlich Sachzwänge gäbe - nicht nur die Notwendigkeit des gesunden Mittagsschlafes, sondern auch "freie Fahrt für freie Bürger". Wir leben nun einmal in einer Autowelt und können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Die Vorstellung von den Sachzwängen ist natürlich eine Ideologie. In Wirklichkeit gibt es keine Sachzwänge, wohl aber einen Verteilungskonflikt. In diesem Konflikt geht es um die Frage, wie das knappe Gut "öffentlicher Raum" am sinnvollsten genutzt werden soll. Und es gibt durchaus beachtliche Entscheidungsspielräume. Leider ist es aber so, daß die Kinder in diesem Konflikt die schwächste Partei sind. Das ergibt sich allein daraus, daß in den Großstädten immer weniger Familien mit Kindern leben. In Freiburg z.B. leben nur noch in 17 % der Haushalte Kinder. 

Nachbetrachtung zum Thema

Das Thema meines Vortrags lautet "Zerstörte Stadt - zerstörte Kindheit?" Meine Ausführungen dazu lassen vermuten, daß heutige Kinder unter einer Art "Stadtzerstörung" leiden. Das wäre jedoch ein Mißverständnis, das vielleich darauf beruht, daß der Begriff "Zerstörung" in einer sehr unpräzisen Weise verwendet wird:Von "Zerstörung" sollte man z.B. nicht sprechen, wenn wir meinen, daß es Abweichungen von einer Idealvorstellung gibt. Die Redeweise von der "zerstörten Stadt" wird nicht selten so verstanden: dabei geht es dann meistens um Abweichungen moderner Städte von dem Idealbild entweder der mittelalterlichen Stadt oder toskanischer und ligurischer Städte wie z.B. Siena oder Ormea. Moderne Städte gelten dann als "zerstört", weil sie z.B. Hochhäuser haben, Einkaufspassagen, viel Verkehr, Stadtautobahnen usw. Es mag sinnvoll sein, das alles abzulehnen, aber es hat mit "Zerstörung" nicht viel zu tun. Wenn wir von "Zerstörung" sprechen, sollten wir im Auge behalten, daß es sich dabei um einen entropieerzeugenden Prozeß handelt. Wenn etwas zerstört wird, dann wird der Ordungsgrad reduziert. In diesem Sinne ist es z.B. sinnvoll, von den zerstörten Städten der Nachkriegszeit zu sprechen. 

Wenn wir nun die Entwicklung unserer Städte seit dem zweiten Weltkrieg betrachten, so können wir beobachten, daß unter bestimmten Gesichtspunkten der Ordnungsgrad zugenommen hat - also geradezu das Gegenteil von "Zerstörung". Dafür gibt es zumindest zwei Indikatoren: Die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung des städtischen Raumes und die zunehmende Zahl von Regeln. Die Städte sind nicht nur gewachsen, sondern es läßt sich auch ein Prozeß der innerstädtischen Differenzierung ausmachen. Es gibt Wohnviertel, Arbeitsviertel, Konsumviertel, Vergnügungsviertel und Rerservate für Kinder. Die Wohnviertel wiederum sind in hohem Maße strukturiert - also geordnet: Die Zeilenbauten des sozialen Wohnungsbaus haben ihr Ordnungsmuster. Die Reihenhaussiedlungen haben ihre Struktur und Ordnung. Bauvorschriften und Baumärkte sorgen dafür, daß kein Gebäude zu sehr aus dem Rahmen fällt. Das gilt auch für die Gewerbegebiete und die Konsum- und Geschäftsviertel. Filialbetriebe lassen sich in allen Innenstädten nieder. Die Fassaden ähneln sich. Der städtische Raum ist so, daß man sich als Fremder mühelos in jeder Stadt zurechtfinden kann und nie das Empfinden hat, in einer völlig neuen und unbekannten Umgebung zu sein. Also auch hier ein hohes Maß an Ordnung und Strukturiertheit. Das gleiche gilt auch für Räume, die für Kinder übriggeblieben sind oder eingerichtet wurden. Spielplätze in Emden, Leipzig oder Freiburg unterscheiden sich kaum. Es gibt Unterschiede nach der Größe und der Ausstattung, aber es ist nicht sehr schwierig, eine Typologie zu entwickeln, die sich in allen Städten immer wieder beobachten läßt. Die Spielmöglichkeiten selber sind in hohem Maße durch die Ausstattung und Ordnung dieser Plätze vorgegeben: Rutschen, Kriech- und Wackeltiere, Spielsysteme, die alles in einem anbieten: Leiter, Rutsche, Kletterseil und -stange, Balancierbalken. Kinder in Schleswig-Holstein spielen auf diesen Plätzen das gleiche wie in Sachsen oder in Südbaden. Sie rutschen, kriechen, schaukeln und wackeln. Also auch hier ein hohes Maß an Ordnung, Strukturiertheit und Standardisierung. 

Diese zunehmende Ordnung wird auch sichtbar, wenn wir die zunehmende Regeldichte in Betracht ziehen: Im Baubereich die ständig wachsende Zahl von Vorschriften; Regeln, die sich auf den rollenden und ruhenden Verkehr beziehen: Wer in welcher Richtung wie schnell fahren darf, wer wo und wie lange parken darf. Wo man Plakate aufhängen darf und wo nicht. Wo man nicht sprayen darf. Wann und wie lange man auf der Straße musizieren darf. Wo Hunde hindürfen und wo nicht. Wo man Kinderwagen nicht abstellen darf. Wer für was haftet. Wer wo gehen darf. Auch Kinder sind mehr und mehr von Regeln betroffen: Regeln über die Sicherheit von Spielgeräten. Regeln, die festlegen, wo und zu welchen Zeiten welche Kinder spielen dürfen. Was man betreten darf und was nicht. Aus der Sicht von Kindern stellen sich moderne Städte als "Regelwüsten" dar. 

Wenn wir unter "Zerstörung" einen entropieerzeugenden Prozeß verstehen wollen - und nur das ergibt einen Sinn - dann sind moderne Städte alles andere als zerstört. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Wir können eine Zunahme an Ordnung, an Strukturiertheit und Funktionalität betrachten. 

Um zu verstehen, welche Probleme für Kinder in einer solchen Umwelt entstehen, ist vielleicht eine Formulierung von Pierre Schaeffer ganz hilfreich: "Mankind ist continuously threatened by two things: chaos and order." Das gilt natürlich auch für Kinder und wenn wir fragen, was ihre Lebensqualität besonders bedroht, dann ist das vielleicht eher ein Übermaß an Ordnung als ein Zuviel an Chaos. Ein gewisses Maß an Unordnung und Chaos war für Kinder in der Vergangenheit nie ein besonderes Problem. Kinder können mit Unordnung oft mehr anfangen als mit Ordnung. Unordnung war viel eher eine Herausforderung, vielleicht sogar eine wichtige Bedingung, damit sich kreatives Spielen entfalten konnte. Kreativität setzt wohl immer ein gewisses Maß an Unordnung voraus. Etwas gestalten kann man nur, wenn es veränderbar ist, wenn es sich nicht in einem Zustand der unwiderruflichen und überwältigenden Ordnung befindet. Und wenn das Ausmaß der Ordnung zu groß ist, dann erfordert kreatives Gestalten zunächst einen Akt der Zerstörung. Der so oft beklagte Vandalismus von Kindern in den Steinwüsten der Vorstadtsiedlungen hat hier seine Gründe. Wer in diesen Umwelten etwas gestalten will, muß zunächst einmal zerstören. Vandalismus ist ganz sicher eine Reaktion auf zuviel Ordnung, zuviel Struktur - eine Reaktion auf das Ungleichgewicht von Chaos und Ordnung. Neuere Entwicklungen auf dem Gebiet der Stadtplanung und der Architektur lassen erkennen, daß Ordnung nicht nur für Kinder ein Problem ist. Die postmoderne Architektur läßt sich sicher als Versuch verstehen, die überhandnehmende Ordnung in den Städten durch eine Art inszeniertes Chaos zu überwinden. Städte, denen man heute einen hohen Erlebniswert zuschreibt, sind Städte, in denen die Inszenierung von Chaos besonders gut gelungen ist. Und Städte sind auf diesem Weg besonders erfolgreich, wenn sich aus der Inszenierung von Unordnung eine Eigendynamik entwickelt: Wenn sich die Innenstadt mit Musikanten füllt; wenn es in den autofreien Fußgängerzonen nur so wimmelt. In Freiburg wurde so etwas für Kinder versucht: die Inszenierung von Chaos, um Kindern die Gelegenheit zu kreativem Spielen zu geben. Dieser Versuch besteht in dem schon beschriebenen Rückbau von Spielplätzen. Alle Kriech- und Wackeltiere, alle die schönen und teuren Spielsysteme wurden abgeräumt und statt dessen gibt es Erdhügel, Lehm und Matsch, Wasserpfützen, bewegliche Gegenstände wie Steine und Hölzer, statt Zierhölzern gibt es Unkräuter und zerstörbare aber robuste Pflanzen wie Weiden und Holunder. Auf den Spielplätzen, wo dieser Versuch unternommen wurde, hat sich dann auch tatsächlich eine Eigendynamik entwickelt: Es wimmelt nur so von Kindern, die aus dem ganzen Stadtgebiet in diese noch sehr kleine Zahl von zurückgebauten Plätzen strömen. Es wird gespielt und gelacht und der Lärmpegel ist so hoch, daß sich Nachbarn in einer Bürgerinitiative zusammenschließen, um die alten geordneten Zustände wieder herzustellen. 


Anmerkungen
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  1. Postman,N. : Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt 1987
  2. Beck-Gernsheim, E. : Die Inszenierung der Kindheit, in: Psychlogie heute, Dez. 1987 
  3. Zinnecker, J.: Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind, in: I.Behnken (Hg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation, Opladen 1990 
  4. Zeiher, H.: Das Eindringen moderner Zeitorganisation in die Lebensbedingungen von Kindern, in: Zeitschr. f. Sozialisationsforschung u. Erziehungssoziologie 1984 
  5. Neumann, K., Charlton, M.: Kinder, Medienkonsum und Familienwelt, in: Zeitschr. f. Sozialisationsforschung u. Erziehungssoziologie 1990, Heft 1
  6. Zeiher, H.: Die vielen Räume der Kinder, in: U. Preuss-Lausitz u.a. (Hg.), Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder, Weinheim/Basel 1983 
  7. Blinkert, B.: Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Eine Untersuchung im Auftrag der Stadt Freiburg, Pfaffenweiler 1993 
  8. Baudrillard, J.: Die Agonie des Realen, Berlin 1978 
   

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